Silvio Schwartz

„Das ist also diese Mauer!“

Silvio Schwartz, Online-Kommunikationsmanager

Als die Mauer fiel, war ich sechs Jahre alt. Und ich lebte fast neben ihr, in einer Wohnung auf dem Campus in Berlin-Mitte, auf dem heute auch das MDC steht.
Wir wohnten ganz nah an der Berliner Mauer, auf dem Campus der Veterinärmedizin der Humboldt-Universität.
 Silvio Schwartz
Silvio Schwartz Abteilung Kommunikation

Der Autor wuchs in einer Wohnung auf dem heutigen Campus in Mitte auf, wo sich auch ein Teil des MDC befindet.

Wenn man ein kleines Kind ist, dann bekommt man ja nicht viel mit von der großen Welt. Ich fand etwa komisch, dass die Landkarte in den Fernsehnachrichten West-Berlin hervorhob, mein Ost-Berlin aber im Grau des restlichen Landes verschwand. Das fand ich ungerecht, ich wollte nicht im Grau der Karte verschwinden.

Oder das Brandenburger Tor! Nie konnten wir hingehen, Polizisten und ein Zaun versperrten den Weg. Und dieser Zaun wurde immer wieder weiter verschoben – das Tor rückte also immer weiter in die Ferne.

Und dann gab es diese Männer. Manchmal folgten sie uns im Dunkeln, wenn wir auf dem Weg nach Hause waren. Wir wohnten nämlich ganz nah an der Berliner Mauer, auf dem Campus der Veterinärmedizin der Humboldt-Universität. Auf dem Gelände befindet sich heute das MDC in Form des Berliner Instituts für Medizinische Systembiologie. Aber für mich war das einfach ein großer und behüteter Abenteuerspielplatz.

Ich wusste auch nicht, dass sich direkt daneben ein hochpolitischer Ort befand, die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland. Ich wusste nur, dass dort auch diese Männer standen, bei denen wir lieber die Straßenseite wechselten. Auf der anderen Seite des Campus befand sich eine weitere wichtige Einrichtung, nämlich der Staatssekretär für Kirchenfragen der DDR. Doch für mich war das einfach nur der Ort, der mit einer Mauer abgetrennt war.

Alles stand plötzlich infrage

An den 9. November selbst kann ich mich aber kaum erinnern. Ich erinnere mich vor allem an Bilder im Fernsehen: Erwachsene Menschen saßen auf der Mauer und sangen „Auf der Mauer, auf der Mauer, sitzt ne kleine Wanze“. Das war sehr lustig. Der Spruch „die Mauer muss weg“ fiel immer wieder. Und ich wusste endlich, was los war, als die Mauer auf dem Campus abgerissen wurde! Das ist also diese Mauer, von der alle sprachen! Natürlich war es nur die kleine Mauer zum Staatssekretär für Kirchenfragen, dessen Gebäude jetzt wieder zugänglich war.

Danach sind viele Dinge passiert: Wir konnten auf Straßen weitergehen, an denen die Welt vorher zu Ende war. Im Bahnhof Friedrichstraße wurden die seltsamen Türen ohne Türklinken abgebaut, aus denen zuvor Menschen herauskamen, aber nie hineingingen. Und in einem West-Berliner Supermarkt lernte ich, dass es die Dinge aus dem Fernsehen auch in echt gab. Und ich wurde gleich enttäuscht: Aus der Packung mit dem Kakaopulver sprang gar kein Zeichentrickhase! Das war meine erste Begegnung mit der Marktwirtschaft.

Die Veränderungen hörten nicht auf. In der Umgebung wurden Schritt für Schritt die grünen Ecken zwischen den Gebäuden zugebaut, am Bahnhof Friedrichstraße saßen plötzlich Menschen mit Bierflaschen in der Bushaltestelle, davor standen Mülltonnen, in denen Feuer brannte. „Die haben keine Wohnung“, erklärte mir meine Mutter. Sie sammelte auch Unterschriften, damit das Sandmännchen weiterleben konnte. Das Aussehen der Ampelmännchen änderte sich. Alles stand plötzlich infrage.

Ein Kind Ost-Berlins: der Autor im Jahr 1989.

Und wir mussten den Campus verlassen. Nachdem kurz zur Debatte stand, die Humboldt-Universität aufzulösen, wurde die Veterinärmedizin nämlich der Freien Universität zugeschlagen, der Standort wurde abgewickelt. Wir zogen in unser Haus am Stadtrand im Osten. Dort ging ich in eine Dorfgrundschule, wo ich vom großen Weltgeschehen nicht mehr viel mitbekam. Das war offenbar Geschichte.

Kritische „Einwende“

Zum Studium zog es mich aber wieder an die Humboldt-Universität. Durch die Gender Studies lernte ich kritisch auf die Geschlechterverhältnisse zu blicken und Schritt für Schritt lernte ich, auch kritisch auf das deutsch-deutsche Verhältnis zu schauen. Warum etwa waren Beschreibungen einer Kindheit in Deutschland immer so anders als meine und stellten sich jedes Mal als westdeutsch heraus? Warum wurden Fehler stets in der DDR gesucht, aber nie in der gesamtdeutschen Zeit nach dem Mauerfall? Und warum merkt man Medienberichten oft an, dass sie mehr auf Klischees beruhen als auf echtem Wissen? Mit einer Freundin gründete ich deshalb 2011 das Blog einwende.de, wo wir uns bis heute anschauen, wie Ostdeutschland in den Medien dargestellt wird. Vor kurzem hat mich deshalb das Medienmagazin Zapp des NDR interviewt.

Und eine weitere Frage trieb mich um, seitdem der Palast der Republik und mein Gymnasium in Berlin-Marzahn abgerissen wurden: Warum gibt es so viele Orte meiner Kindheit und Jugend nicht mehr? Und warum interessiert sich kaum jemand dafür? Ich habe deshalb angefangen, auf Instagram einen prägnanten Schulbautyp in Ost-Berlin zu dokumentieren, es entwickelt sich eine junge Community rund um Ostbauten. Rund 175 Gebäude dieses Schultyps wurden errichtet, etwa 100 stehen noch. Gebaut wurden sie in ganz Ost-Berlin und stehen unter anderem in Mitte, in Marzahn und in Buch, an den Orten meines Lebens. Von 1966 bis 1982 sind sie entstanden. Im Jahr darauf wurde ich geboren in einem Land, das ich sechs Jahre lang erlebt habe und das mich bis heute prägt.