9.11. Teffera

Von Addis Abeba zur Treuhand

Dr. Timkehet Teffera Mekonnen, Abteilung Kommunikation

Auch veränderte sich einiges im Bildungssektor. Hier trat der Ost-West-Konflikt für mich zum Vorschein.
In meinem Fachbereich Kultur- und Kunstwissenschaften konnte ich beobachten, wie die Qualität des in der DDR angebotenen Studiums angezweifelt wurde.
Timkehet Teffera Mekonnen
Timkehet Teffera Mekonnen Abteilung Kommunikation

Im September 1987 kam ich aus dem ostafrikanischen Äthiopien in die DDR. Ich wurde vom Institute of Ethiopian Studies (IES) der Addis-Abeba-Universität (AAU) delegiert, als Studierende in Deutschland meine universitäre Weiterbildung in der Musikwissenschaft fortzuführen. Während der ersten zehn Monate lebte ich in Leipzig und war dort am Herder-Institut für die Sprachvorbereitung. Im September 1988, also ein Jahr nach meiner Ankunft in der DDR, kam ich nach Berlin, wo ich ab Oktober desselben Jahres, mein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin aufnahm. Im November 1989 war ich im dritten Semester.

Am 9. November war ich mit Freunden in der Nähe des Berliner Alexanderplatzes unterwegs, als wir plötzlich lautes Stimmengewirr von Menschenmassen hörten, das wir allerdings nicht genau verorten konnten. Die Tatsache, dass wir diesen ungewöhnlich klingenden Lärm nicht deuten konnten, versetzte uns in Angst. Wir dachten, wir seien in Gefahr, und entschieden uns, zurück ins Studentenwohnheim zu fahren. Dort angekommen, schalteten wir den Fernseher an. Erst dann erfuhren wir, was es mit dem Lärm auf sich hatte. Die Berliner Mauer sei gefallen, hieß es nämlich. Der damalige SED-Politiker Günther Schabowski hatte am frühen Abend in einer Pressekonferenz über die neu in Kraft tretende Reiseverordnung gesprochen. Seine Verkündung basierte allerdings auf missverständlichen Informationen. Folge jedenfalls war, dass sich Massen von DDR-Bürgerinnen und -Bürger zu den Grenzübergangen begaben. Und auch genau das waren die Menschenmassen am Alexanderplatz.

Gekränkte Dozenten

Für mich kamen die Veränderungen ziemlich schnell. Beispielsweise wurden Lebenshaltungskosten teurer. Dies hatte damit zu tun, dass die schlagartige Währungsunion von 1990 Wechsel von der Mark der DDR (M) zur Deutschen Mark (DM), negative wirtschaftliche Entwicklungen mit sich brachte. Auch veränderte sich einiges im Bildungssektor. Hier trat der Ost-West-Konflikt für mich zum Vorschein. 

In meinem Fachbereich Kultur- und Kunstwissenschaften konnte ich beobachten, wie die Qualität des in der DDR angebotenen Studiums angezweifelt wurde. Diese Situation kränkte viele Dozenten. Sie brachten ihre Meinungen uns gegenüber während der Seminare und Vorlesungen zum Ausdruck. Die Degradierung von anerkannten DDR-Lehrkräften öffnete die Türen für Wissenschaftler aus der BRD, Lehrstühle an Universitäten der ehemaligen DDR zu besetzen. 

Aus Äthiopien kommend, habe ich bis dato die Erfahrung gemacht, dass solche historischen Veränderungen und Wechsel von Machtstrukturen gewaltsam geschehen und viele Menschenleben kosten. Dass ein solch geschichtlich bedeutender Veränderungsprozess ohne dieses Blutvergießen auskommt und, für meine Begriffe, in „friedlicher“ Manier ablaufen kann, war für mich eine positive Erfahrung. Meine Definition dieser „friedlichen Manier“ ist allerdings allein dadurch gekennzeichnet, dass die Machthaber keine physische Gewalt anwendeten. 

Es gab aber eine andere Form von Gewalt, die ich wahrnahm. Wenn ich heute darüber nachdenke, dann wird mir klar, dass es eine Gewalt war, die sich psychischen Drucks bediente, in dem sie den Wert und die Bedeutung des in der DDR vermittelten Lernstoffs in Frage stellte, und somit auch ihre Lehrkräfte. So dass diese ständig in einem Rechtfertigungsnotstand gegenüber dem westlichen Bildungssystem. Frei nach dem Motto: Alles, was in der DDR bildungstechnisch vermittelt wurde, ist entweder nutzlos oder steht zwangsläufig im Zusammenhang mit sozialistischen Ideologien, während die westliche Bildungsweise glänzend dastand.

Ost und West bei der Treuhand

Mir wurde klar, dass die physische Mauer zwar gefallen ist, die Mauer in den Köpfen der Menschen dafür umso größer wurde und riesige Diskrepanzen offenbarte.
Timkehet Teffera Mekonnen
Timkehet Teffera Mekonnen Abteilung Kommunikation

Einen ähnlichen Machtkampf erlebte ich auch während meines ersten Jobs. 1992 arbeitete ich als Werkstudentin in mehreren Abteilungen bei der Treuhand Liegenschaftsgesellschaft (TLG). Die TLG kümmerte sich um die Privatisierung ehemaliger DDR-Betriebe – war also mit dem Wechsel von der Planwirtschaft in eine kapitalistische Marktwirtschaft beteiligt. Hier konnte ich den Konflikt zwischen Ost- und West-Mitarbeitern gut beobachten. Aus dem Westen stammende Mitarbeiter hatten eine herabsetzende Haltung gegenüber ihren Kollegen aus dem Osten, und stellten sich somit selbst als ihnen überlegen dar. Dies wiederum verursachte Wut und Frustration bei den „Ossis“. Mir wurde klar, dass die physische Mauer zwar gefallen ist, die Mauer in den Köpfen der Menschen dafür umso größer wurde und riesige Diskrepanzen offenbarte. Die eigentliche Wiedervereinigung Berlins fand demnach nicht am Abend des 9. Novembers 1989 statt. Sie ist ein fortwährender Prozess, der zum Teil bis heute, 30 Jahre später, anhält.

Wunden der Stasi

Ich möchte von einem weiteren Umstand berichten, den ich durch meine Arbeitsstelle bei der TLG mitbekam. Dieser Umstand hat mit den Auswirkungen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS oder Stasi) nach dem Mauerfall zu tun. Das Ministerium wurde 1950 gegründet und war sowohl Geheimpolizei als auch Nachrichtendienst. Die Stasi entwickelte sich mit der Zeit zu einem Überwachungssystem, das politischen Widerstand gegen die damals vorherrschende SED-Partei, innerhalb der DDR aufdecken und frühzeitig unterwandern sollte. Dieser Apparat wurde so groß und undurchsichtig, so dass Nachbarn sich ausspionierten und Familienmitglieder sich gegenseitig verrieten. Dadurch war das vertrauensvolle Zusammenleben der DDR-Bürger ständig auf eine Zerreißprobe gestellt. 1990, also ein Jahr nach dem Mauerfall, wurde der evangelische Pastor und späterer Bundespräsident Joachim Gauck Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen und Leiter der Behörde. Diese ermöglichte die Einsicht von Stasi-Unterlagen für jeden Bürger der DDR. Die Opfer der Stasi erfuhren durch die Akteneinsicht bei dieser Behörde Wahrheiten über noch unbekannte Geschichten aus der Zeit der Stasi. 

Obgleich ich nicht als unmittelbar Beteiligte darüber urteilen kann, was genau diese Unterlagen für Informationen beinhalteten, kann ich davon berichten, was ich am Arbeitsplatz bezeugen konnte und welche Folgen diese Unterlageneinsicht in einzelnen Fällen hatte. Ich bekam mit, wie Kollegen aufgrund ihrer mit der Stasi verbundenen DDR-Vergangenheit nach jahrelanger Zusammenarbeit kurzerhand entlassen wurden. Ich habe miterlebt, wie Tränen flossen, weil diese Maßnahmen auf ungerechten und vorzeitig gezogenen Schlüssen basierten. Ich weiß aber auch, dass die Gauck-Behörde für viele ehemalige DDR-Bürger und -Bürgerinnen Positives mit sich brachte. Offenbar war die Akteneinsicht für viele eine wichtige Hilfestellung beim Heilungs- oder Verarbeitungsprozess. Das basierte auf dem Wunsch vieler Menschen, die nach Jahren der Ungewissheit, die erwünschte Aufklärung über die in den Akten stehenden Informationen erhielten. 

Schlussendlich waren die Veränderungen, die durch den Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren stattgefunden haben, ein prägendes Erlebnis für mich. Diese Veränderungen nahm ich in der Politik, in der Kultur, im Sozialwesen, im Alltag und der veränderten Lebensweise und -qualität wahr. Ich sehe sie als Erfahrungswerte, aus denen ich eine Menge lernen durfte.

 

© picture alliance/dpa-Zentralbild/Eberhard Klöppel