Fruchtfliege

Der Fliegenatlas

Mit dem „Fly Cell Atlas“ möchten Forscher*innen – darunter Robert Zinzen, einer der Initiatoren des Projekts – die Zellen der Drosophila-Fliege detailliert kartieren. In der Fachzeitschrift „Science“ präsentieren sie nun einen umfassenden Einzelzellatlas des Tiers bestehend aus insgesamt mehr als 250 Zelltypen.

Robert Zinzen leitet die AG "Systembiologie der Differenzierung von neuronalen Zellen und Geweben".

Seit mehr als 100 Jahren dient die Taufliege Drosophila melanogaster als Modellorganismus, um beispielsweise die Entstehung von Krankheiten zu untersuchen. Im Jahr 2017 schlossen sich Drosophila-Forscher*innen auf der ganzen Welt zusammen, um einen umfassenden Zellatlanten für diese Fliege zu erstellen. In „Science“ haben sie vor Kurzem eine Karte bestehend aus mehr als 580 000 Zellen aus allen Teilen des Tierkörpers veröffentlicht. Der Atlas dient als Ressource für die gesamte Drosophila-Forschergemeinschaft, um etwa genetische Störungen oder zelluläre Prozesse in einem vollständigen Organismus mit Einzelzellauflösung zu studieren. Im Interview erzählt Dr. Robert Zinzen vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC), über die Hintergründe und den Zweck des ungewöhnlichen Kartierungsprojekts. Zinzen, der die Initiative mit ins Leben gerufen hat, leitet die Arbeitsgruppe „Systembiologie der Differenzierung von neuronalen Zellen und Geweben“ am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie (BIMSB) des MDC.

Einen Atlas stelle ich mir als Buch mit einer Reihe von Landkarten vor. Wie sieht ein Atlas über die Zellen einer Fliege aus?

Es gibt ganz verschiedene Arten von Atlanten. Im Allgemeinen geben sie einen Überblick über bestimmte Orte oder Situationen und beinhalten vielfältige Informationen. Der „Fly Cell Atlas“ liefert ein Gesamtbild über alle in der Drosophila-Fliege vorhandenen Zellen. Denn um einen Organismus zu verstehen, benötigen wir umfangreiches Wissen über seine zellulären Bausteine.

Kann man in dem Atlas sehen, wo sich die verschiedenen Zellen im Organismus befinden?

Wir haben noch keine komplette räumliche Auflösung wie bei einer Landkarte – es ist eher wie ein Katalog mit mehr als 250 verschiedenen Zelltypen, was die große Vielfalt zeigt. Zwar können wir zum Beispiel Herz und Flügel vergleichen, aber in beiden finden wir gleiche Zelltypen wie Nervenzellen; und wo die einzelnen Zellen genau sitzen, wissen wir noch nicht.

Was bringt eine solche Liste an Zelltypen?

Wir wollen herausfinden, wie die Zellen ticken. Dazu müssen wir sie genauer charakterisieren. Was unterscheidet etwa die Muskelzellen aus unterschiedlichen Geweben voneinander? Was ist ihre genetische Signatur? Welcher Genschalter aktiviert welches Gen? Welche biochemischen Repertoires haben die Zellen? Es gibt ganz viele verschiedene Moleküle, die über die spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten der Zellen bestimmen. Signalmoleküle oder Transkriptionsfaktoren zum Beispiel, die die Herstellung von Proteinen steuern. Zudem finden wir zum Beispiel ganz seltene Zelltypen oder ungewöhnliche Subtypen.

Und der Atlas bündelt alle diese Informationen?

Richtig. Er verschafft uns ein vollständiges Bild über alle Zellen des Fliegenorganismus. Damit lässt sich dann beispielsweise erforschen, wie die Zellen miteinander interagieren und kommunizieren. Das funktioniert auch ohne deren exakte Positionen zu kennen. Tatsächlich wollen wir die räumliche Auflösung aber auch irgendwann erreichen. Das ist der nächste große Schritt.

Wie kann er gelingen?

Es gibt verschiedene Ansätze. Eine ist eine computerbasierte Methode, die die räumliche Auflösung aus den vorhandenen Daten rekonstruiert. Eine andere bestimmt direkt in Sequenzierungs-Experimenten die Positionen der Zellen. Beide haben Vor- und Nachteile. Wichtig ist aber, dass Methoden existieren, mit denen das mittlerweile möglich wird.

In der AG Zinzen arbeiten Forschende mit Fruchtfliegen.

Warum eigentlich ein Atlas einer winzigen Fliege und nicht eines etwas „interessanteren“ Organismus?

Tatsächlich gibt es ähnliche Projekte – auch für den menschlichen Körper, der Human Cell Atlas. Die Fliege ist aber aufgrund ihrer Größe weniger komplex und kann viel umfassender angegangen werden. Dies ist das erste Mal, dass ein vollständiger Organismus in diesem detailreichen Ausmaß kartiert wurde. Und seine Funktionsweise können wir damit erstmalig im Ganzen studieren.

Und die Erkenntnisse lassen sich dann auf den Menschen übertragen?

Zum großen Teil, ja. Die Fliege ist ja ein Modellorganismus. Es gibt etliche Prinzipien, die in unserem Körper auf ähnliche Weise oder sogar gleichermaßen gelten wie in der Fliege. Da geht es etwa um die Aufgabe von Genen oder Zellen oder auch Modelle für Krankheiten. So gibt es zum Beispiel für mehr als 70 Prozent der Gene, die mit menschlichen Krankheiten in Verbindung gebracht werden, ein direktes Gegenstück im Genom der Fliege.

Wer kann den Atlas nutzen?

Im Prinzip jeder, der Interesse hat. Wir haben von Anfang an sichergestellt, dass die Daten frei verfügbar sind. Allerdings kann nicht jeder mit solchen riesigen Datenmengen umgehen. Daher stellen wir auch verarbeitete Dateien zur Verfügung, die die gewonnen Informationen visualisieren. Aber in erster Linie ist er natürlich für die Drosphila-Forschergemeinschaft gedacht, die mit dem Atlas eine einmalige Plattform hat, um biologische Mechanismen zu studieren und zu verstehen.

Warum ist die Datenmenge so groß?

Die Karte der ausgewachsenen Fliege, die wir jetzt in dem neuen Paper präsentieren, besteht aus mehr als einer halben Million Zellen. Und jede Einzelne enthält Informationen über Tausende von Genen und Transkriptionsfaktoren. Es ist also ein riesiger, multidimensionaler Datensatz. Um diesen zu analysieren, nutzt man verschiedene computergestützte Methoden, zum Beispiel aus dem Bereich des maschinellen Lernens. Das sind Algorithmen, die selbstständig dazu lernen und Muster in den Daten finden, um etwa Zellen zu klassifizieren.

Sie sind einer der Initiatoren des Projekts. Wie kam es dazu?

Fruchtfliegen spielen seit über einem Jahrhundert eine führende Rolle in der biologischen Forschung. Thomas Hunt Morgan entdeckte mit ihrer Hilfe, dass Gene auf Chromosomen sitzen.

Die Idee eines Fliegenzellatlanten kam durch die Entwicklung der Technik zur Sequenzierung einzelner Zellen in den Jahren 2015 und 2016 auf, bei der auch das MDC maßgeblich beteiligt war – insbesondere die Gruppe um Professor Nikolaus Rajewsky. Mit der Einzelzell-Sequenzierung war die Generierung der Daten plötzlich nicht mehr das Problem. Meine Gruppe arbeitete damals bereits am Fliegenembryo, der aus rund 6000 Zellen besteht. Schon ganz früh in der Entwicklung sind viele charakteristische Genexpressionsmuster zu erkennen. In Zusammenarbeit mit der Gruppe von Rajewsky versuchten wir mittels mathematischer Methoden aus den experimentellen Daten die räumliche Position der Zellen zu errechnen.

Der erste Versuch einer Kartierung?

Wenn man so will, ja. Wir nannten es intern die „Blaupause“ des Embryos. Gemeinsam mit den beiden Drosophila-Experten Professor Stein Aerts vom Flämischen Institut für Biotechnologie in Belgien und Professor Bart Deplancke von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne in der Schweiz beschloss ich dann ein Konsortium ins Leben zu rufen, um einen umfassenden Zellatlas der Fliege zu erstellen. Im Jahr 2017 organisierten wir die erste Konferenz mit etwa 40 bis 50 Leuten in Leuven in Belgien. Dort haben wir die relevanten Fragestellungen diskutiert und schließlich den Grundstein für das Projekt gelegt. Letztes Jahr haben wir uns auch hier am MDC in Berlin getroffen und uns zum Stand der Dinge ausgetauscht. Mittlerweile sind wir eine riesige internationale Community. Das sieht man auch an der neuesten Publikation: Insgesamt haben daran mehr als 150 Wissenschaftler*innen aus insgesamt 46 Forschungsgruppen und vielen verschiedenen Ländern mitgewirkt.

Die Fragen stellte Janosch Deeg.

Taufliegen sind ein beliebtes Forschungsmodell.

 

Weiterführende Informationen

 

Literatur

Hongjie Li (2022): “Fly Cell Atlas: A single-nucleus transcriptomic atlas of the adult fruit fly“. Science. DOI: 10.1126/science.abk2432