Kras-Driven Lung Cancer

Mit KI die passende Krebstherapie finden

Krebsbehandlungen sind komplex geworden. Ein KI-basiertes Online-Tool, das Forschende des Max Delbrück Center entwickelt haben, hilft Onkolog*innen und Erkrankten, eine möglichst aktuelle und auf sie zugeschnittene Behandlung zu finden.

Im Herbst 2021 hatte Lisa Benetti Probleme beim Atmen. Ihr Arzt diagnostizierte Asthma, aber Weihnachten litt sie noch immer an Atemnot. Eine Röntgenaufnahme zeigte, dass ihr Zustand ernst war. Auf ihren Lungenflügeln waren unheilvolle Flecken zu sehen. Eine Biopsie bestätigte die erschreckende Diagnose: Sie hatte nicht-kleinzelligen Lungenkrebs im Stadium III.

Während der Standarduntersuchungen sequenzierten die Mediziner*innen unter anderem die DNA ihres Krebsgewebes und stellten eine Mutation im KRAS-Gen fest. Sie erfuhr davon zunächst nichts. Es gab keine Alternative zur herkömmlichen Chemotherapie und Bestrahlung – dachte zumindest ihr Arzt. Später fand sie heraus, dass das nicht ganz stimmte. Eine neue Immuntherapie – eine Behandlung, die das Immunsystem so trainiert, dass es den Krebs erkennt – war gerade zu der Zeit verfügbar geworden.

Hätte sie von ihrem KRAS-Status gewusst, hätte sie vielleicht nach der Immuntherapie gefragt, die bei ihrer Krebsart eine höhere Erfolgsquote aufweist. Heute ist Benetti krebsfrei. Aber sie lebt mit der Angst, dass der Krebs zurückkehren könnte, und mit der Frustration darüber, dass sie sich nicht aktiver um ihre eigene medizinische Versorgung gekümmert hat.

Benettis Fall ist fiktiv. Das Beispiel ist jedoch viel zu häufig Alltag, sagt Dr. Altuna Akalin, Gruppenleiter für „Bioinformatik und Omics-Datenwissenschaft“ am Max Delbrück Center in Berlin. Er ist weit davon entfernt, Ärzt*innen die Schuld dafür zu geben.

Die Anzahl diagnostischer Tests und verfügbarer Krebstherapien ist in den letzten zehn Jahren sprunghaft angestiegen. In diesem Zeitraum wurden durchschnittlich 46 neue Krebstherapien pro Jahr zugelassen. Während die neuen Medikamente für Krebspatient*innen ein Segen sind – sie leben länger als je zuvor –, sehen sich die behandelnden Ärzt*innen mit einer Flut sich ständig ändernder Behandlungsempfehlungen konfrontiert, die Onkolog*innen bei der Entscheidung über die beste Behandlung für ihre Patient*innen mitunter etwas ratlos zurücklässt.

Akalin sah in der zunehmenden Komplexität diagnostischer Tests und neuen Krebstherapien eine Chance. Er erschließt seit Jahren genetische Daten verschiedener Krebsarten, um Hinweise auf eine optimierte Behandlung zu finden. Aber er wollte Patient*innen unmittelbarer helfen. Da maschinelles Lernen immer leistungsfähiger wird, hatte er die Idee für Onconaut – ein Online-Tool auf KI-Basis für Mediziner*innen und Patient*innen, das Orientierung bei personalisierten Krebstherapien bieten soll.

„Medikamente und diagnostische Verfahren zu entwickeln, sind große wissenschaftliche Aufgaben. Aber es dauert Jahrzehnte, bis daraus ein nützliches Produkt wird“, sagt er. „Wir wollten ein Werkzeug entwickeln, das Kliniker*innen dabei hilft, jetzt die bestmöglichen Entscheidungen für ihre Patientinnen und Patienten zu treffen. Außerdem wollten wir den Erkrankten zeigen, welche Optionen sie haben, damit sie sich besser für sich selbst stark machen können.“

KI in der Medizin

Mittlerweile hat nahezu jede und jeder von den vielversprechenden Möglichkeiten und Gefahren Künstlicher Intelligenz (KI) und ihrer Tools wie ChatGPT gehört. In der Biomedizin nutzen Forschende bereits seit Jahren Tools für maschinelles Lernen, einer Anwendung der KI. Die Computer werden immer schneller und so entwickeln Datenwissenschaftler*innen mathematische Modelle, die aus den Petabytes an Forschungsdaten nützliches Wissen ableiten. Durch gezieltes Training 'lehren' sie die Modelle, Muster in den Daten zu finden, um komplexe Zusammenhänge besser zu verstehen und Vorhersagen zu treffen. Je mehr Daten sie in das Modell einspeisen, desto besser wird das Tool.

Ein Großteil dieser Forschung steckt in den Kinderschuhen. Es gibt jedoch Beispiele, wie KI Erkrankten zugutekommen könnte. Das „Human Radiome Project“, das die Helmholtz-Gemeinschaft in Deutschland vorantreibt, zielt beispielsweise darauf ab, dreidimensionale Bilderarten aus der Radiologie, wie MRTs und CT-Scans, in einem KI-Modell zusammenzufassen. So wollen die Forschenden unser Verständnis der menschlichen Anatomie vertiefen und Krankheiten besser unterscheiden und gleichzeitig die Arbeit von Radiolog*innen effizienter machen.

In der Biomedizin trainieren Forschende KI-Modelle auf unzählige weitere Arten. Einige nutzen sie, um bessere Medikamente zu entwickeln, andere, um in der Biologie Hinweise auf den Krankheitsverlauf zu finden. „KI kann Grundlagenforschung, unsere Arbeit mit Big Data bis hin zur Suche nach Therapeutika beschleunigen“, sagt Professor Uwe Ohler, Gruppenleiter der Arbeitsgruppe „Bioinformatik der Genregulation“ am Max Delbrück Center.

Biomarker und zielgerichtete Therapien

Für Akalin ist Onconaut eine Möglichkeit, die Versorgung von Krebspatient*innen unmittelbar zu verbessern. Auf der Benutzeroberfläche finden sie eine einfache Suchfunktion, die die Komplexität der Thematik verbirgt. „Geben Sie eine Anfrage zu Krebs-Biomarkern ein“, heißt es schlicht in der Maske. Wenn man „KRAS und Lungenkrebs“ eingibt, werden die neuesten klinischen Leitlinien, eine Liste verfügbarer Medikamente für Krebsarten mit KRAS-Mutationen, deren Risiken und Statistiken zu den Behandlungsergebnissen angezeigt. Am wichtigsten für Betroffene ist jedoch, dass sie innerhalb von Sekunden eine Liste klinischer Studien bekommen.

Biomarker sind aufschlussreiche Hinweise, wenn es um Gesundheit und Krankheit geht. Manche Biomarker sind einfach – Blutdruck und Herzfrequenz dienen beispielsweise als Indikatoren für die kardiovaskuläre Gesundheit.

Krebsforscher*innen haben etliche Therapien entwickelt, die auf Tumoren mit bestimmten Mutationen abzielen. Diese Mutationen werden ebenfalls Biomarker genannt. Meist identifiziert man sie, wenn eine Biopsie des Tumors oder eine Probe von Krebszellen aus Körperflüssigkeiten genommen und das genetische Material sequenziert wird. Solche Biomarker sind inzwischen unverzichtbar, um die Krebstherapie zu personalisieren.

Wie Onconaut trainiert wurde

Ärztinnen und Ärzte kann das keinesfalls ersetzen. Aber die Tools können Entscheidungen beschleunigen. Sie können die Produktivität von Experteninnen steigern und Berufsanfängerinnen unterstützen.
Altuna Akalin
Altuna Akalin Gruppenleiter für „Bioinformatik und Omics-Datenwissenschaft“

Akalin und seine Kolleg*innen haben Onconaut mit ganz unterschiedlichen Inhalten trainiert, darunter medizinische Studien und klinischen Leitlinien, die offizielle Organisationen wie die Deutschen Krebsgesellschaft oder die American Society of Clinical Oncology (ASCO) herausgegeben haben.

Um das Tool weiter zu testen und zu verbessern, arbeitet Akalin derzeit an einem Projekt mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Er und seine Kolleg*innen trainieren dazu ein Modell mit Daten dortiger Krebspatient*innen. Sie bitten das Modell, einen Therapieplan zu empfehlen, und vergleichen das Ergebnis mit dem Plan des Tumorboards – Expert*innen, die den Behandlungsplan für alle Erkrankten diskutieren und abstimmen. „Bisher haben wir eine begrenzte Anzahl von Fällen untersucht. Aber da gab es eine gute Übereinstimmung“, sagt Akalin.

„Ärztinnen und Ärzte kann das keinesfalls ersetzen“, betont Akalin. „Aber die Tools können Entscheidungen beschleunigen. Sie können die Produktivität von Experten*innen steigern und Berufsanfänger*innen unterstützen.“

Zweitmeinungen, andere Krankheiten

Akalin erweitert das Tool zudem, um bei der Diagnose anderer Krankheiten zu helfen. Man kann bereits jetzt die Ergebnisse medizinischer Tests hochladen und das Tool auf der KI-gestützten Website nach einer Zweitmeinung fragen: „Aufgrund dieser Informationen wurde bei mir XYZ diagnostiziert. Wie könnte die Diagnose noch lauten?“, erklärt Akalin.

„Bei Menschen mit seltenen Krankheiten dauert es mitunter Jahre, die richtige Diagnose zu finden“, sagt Akalin. „Wir wollten ein einfaches Tool entwickeln, das Betroffene anhand ihrer Symptome und Tests auf mögliche Diagnosen hinweist.“

Das Modell wird weiter verfeinert. Akalin trainiert es derzeit mit Daten schwieriger medizinischer Fälle, die im „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht wurden. Er will sehen, ob es diese korrekt identifizieren kann. Das Projekt liegt ihm am Herzen – seine Frau leidet an einer seltenen Krankheit, und die richtige Diagnose kam spät.

„Wir Menschen haben viele blinde Flecken. Unsere Routinen hindern uns manchmal daran, unkonventionell zu denken. Mediziner*innen sind davor nicht gefeit“, sagt Akalin. „KI bietet eine Möglichkeit, dieses Problem zu umgehen.“

Hätte es ein solches Werkzeug für seine Frau gegeben, wäre sie möglicherweise schneller diagnostiziert und entsprechend behandelt worden, sagt er. Er hofft, dass es anderen Menschen mit komplexen Erkrankungen es weniger schwer haben werden als seine Frau. In Tests schneidet das Tool laut Akalin recht gut ab: „Bisher ist es besser als Dr. Google.“

Text: Gunjan Sinha