Rainhard Fendrich

Es hatte ja schon lange gegrummelt

Michaela Langer, Mitarbeiterförderung und Freundeskreis

„Die Mauer ist weg!" Wir waren verwirrt. Was bedeutete das?
Die Mitbringsel waren ein Ritual, das jede Auslandsdienstreise, wahrscheinlich in jeder Familie begleitete.
Michaela Langer
Michaela Langer Mitarbeiterförderung und Freundeskreis

Die Unruhe im Land war überall zu spüren. Sie saß zu Hause am Kaffeetisch, sie fuhr auf dem Weg zur Arbeit im Bus mit und sie prägte die Gespräche am Arbeitsplatz. Es war ganz deutlich zu erahnen, dass das zu Ende ging, was wir bisher gelebt hatten: Das Gefüge DDR, nicht immer geliebt, aber wenigstens vertraut, schien so zu wackeln, dass es über kurz oder lang zusammenbrechen würde – so kam es uns vor.

Ein diffuses Gefühl aus Hoffnungen und Ängsten hatte uns erfasst, die sehr vielfältig und individuell sehr unterschiedlich waren. Denn es war völlig unklar, wie es nach möglichen, von den meisten auch ersehnten Veränderungen weitergehen könnte. Wird es besser werden mit der Rede- und Meinungsfreiheit? Reisen? Werden wir im Urlaub auch bald andere Länder sehen als bisher? Wird der wissenschaftliche Austausch für die Mitarbeiter unseres Instituts endlich einfacher und unbürokratischer und damit auch Dienstreisen ins westliche Ausland? 

Aber auch - werden wir unsere Arbeit behalten? Wie wird ein möglicher Umbruch unser Leben, womöglich sogar negativ verändern?

Jener bedeutungsvolle Donnerstag

Mein Mann war eine Woche vor dem 9. November zu einer Dienstreise nach Budapest aufgebrochen. „Aber wieder zurückkommen!", drohte der Taxifahrer, der ihn zum Flughafen bringen sollte im Scherz mit dem Finger. Wir lachten herzhaft mit. An jenem bedeutungsvollen Donnerstag holte ich meinen Dienstgereisten in Schönefeld vom Flughafen ab. Gegen 20 Uhr „überraschten“ wir die Kinder zu Hause mit den kleinen Mitbringseln, die eigentlich keine Überraschungen waren, denn sie wurden im Vorfeld beauftragt: „Bravo“-Hefte, Depeche Mode-Poster, Pferdeposter. Dinge, die hier nicht zu haben waren. Die Mitbringsel waren ein Ritual, das jede Auslandsdienstreise, wahrscheinlich in jeder Familie begleitete. So verbrachten wir den Abend jenseits jeglicher Medien mit Berichten, was hier und da in den letzten Tagen geschehen war: kleine Begebenheiten aus der Schule, von Freunden, aus dem Arbeitsleben und natürlich auch, wie's in Ungarn war. Wir wohnten in Buch und es schien zu diesem Zeitpunkt noch vollkommen ruhig. Es rief auch niemand bei uns an. Ohne zu wissen, was in diesem Moment, nur wenige Kilometer von uns entfernt geschieht, gingen wir völlig unbedarft ins Bett.

Blick aus dem Fenster der Neubauwohnung in Buch IV, wo die Autorin im Frühjahr 1987 wohnte.

Erst am nächsten Morgen schaltete ich das Radio an. „Die Mauer ist weg!" Wir waren verwirrt. Was bedeutete das? Für Mutmaßungen blieb keine Zeit, denn wir alle mussten los, keiner von uns kam auf die Idee, nicht zur Schule oder zur Arbeit zu gehen. Dort aber trafen wir nur die Hälfte der anderen an. Viele waren unterwegs, um sich vor Ort von dem zu überzeugen, was die Maueröffnung in der Praxis bedeutete. Mein Kollege, damals 50, kam am frühen Nachmittag mit Tränen in den Augen herein: „Vor 28 Jahren bin ich zuletzt mit meiner Frau dort spazieren gegangen. Wir wussten nicht, dass es für so lange Zeit das letzte Mal sein würde, und dann dachten wir, wir würden diesen Teil von Berlin nie wiedersehen."

Ich selbst habe mir drei Wochen Zeit genommen, bis ich das erste Mal "rüber" ging. Mir war die allgemeine Aufregung zu viel und ich sagte mir - zu Recht - das bleibt ja jetzt so. Mit meiner Tochter an der Hand, zog ich also los und diese war ganz scharf auf's Begrüßungsgeld. 100 DM - was man damit alles kaufen konnte! Natürlich ging's ihr nur um Spielzeug. Ich selbst hatte keinen Wunsch; und vor allem war es war mir peinlich, dieses Geld abzuholen. So peinlich, dass ich ohne die inständigen Bitten meiner Tochter nicht in eine Bank gegangen wäre. Meine Nachbarn kamen uns mit riesigen Flaschen Weichspüler entgegen. Das machte es nicht besser und auch nicht, dass an jedem Geldinstitut auf unserem Weg schon ein Aushang verkündete: „Hier heute kein Begrüßungsgeld mehr!"

Irgendwann war es vollbracht, irgendwann kehrte Normalität ein. Bis dahin war es ein Weg, der für mich persönlich ein guter war. Ich spreche hier nur für mich, das möchte ich betonen, denn ich hatte Glück. Das hatten manche nicht.

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