Zwei Jahre nach dem ersten Gentherapie Todesfall
Adenoviren sind die in Gentherapiestudien am häufigsten eingesetzten Transportvehikel, um therapeutische Gene in Körperzellen einzuschleusen. Vor zwei Jahren jedoch verstarb der 18-jährige Jesse Gelsinger in den USA an plötzlichem Organversagen, nachdem ihm gentechnisch abgeschwächte Adenoviren als Gentaxi direkt in die Blutbahn gespritzt worden waren. Die genaue molekulare Ursache seines Todes ist bisher ungeklärt. Einen Hinweis auf eine bisher unbeachtete Immunreaktion gegen Adenoviren liefert jetzt die Arbeit eines Forscherteams um Dr. Günter Cichon von der Humboldt-Universität zu Berlin am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) Berlin-Buch und Prof. Reinhard Burger vom Berliner Robert-Koch-Institut, die in der Januar Ausgabe der Zeitschrift “Gene Therapy” (Vol. 8, Issue 23, 2001, pp. 1794 - 1800)* veröffentlicht worden ist. Im Labor lösten hohe Mengen der bei Gentherapien verwendeten Adenoviren eine unerwartet starke Aktivierung des so genannten Komplementsystems aus. Das Komplementsystem besteht aus einer Gruppe von Eiweißkörpern, die im Blut zirkulieren und einen ersten Schutzwall gegenüber eindringenden Infektionserregern bilden. Um die Sicherheit von Patienten zu erhöhen, schlagen die Autoren vor, den Grad der Komplementreaktion künftig vor einer Gentherapie mit einem einfachen Bluttest zu messen.
Aufgabe der Proteine des Komplementssystems ist es, die Immunabwehr zu alarmieren. Ein unnatürlich auftretender, massiver und schlagartiger Auslöser - wie zum Beispiel plötzlich auftretende extrem hohe Virusmengen im Blut - kann jedoch eine gefährliche Komplementrevolte auslösen. “Diese überschießende Immunreaktion kann Organe schwer schädigen und für den Patienten lebensbedrohlich werden”, erläutert Prof. Burger, Seniorautor und Immunologe am Robert-Koch-Institut in Berlin. Derart fatale Attacken des Komplementsystems sind von Traumapatienten nach schweren Unfällen, Verbrennungen oder nach einer Transfusion von Blut mit der falschen Blutgruppe bekannt. Dabei treten massive Entzündungserscheinungen in den Gefäßwänden von Leber, Lunge und Niere auf, die sich bis zum Multiorganversagen steigern können.
“Eine Beteiligung des Komplementsystems an den bei Jesse Gelsinger und in anderen adenoviraler Gentherapiestudien beobachteten Nebenwirkungen ist bislang in der Fachliteratur nicht diskutiert worden”, erklärt der Mediziner Dr. Cichon von der Berliner Humboldt Universität am MDC. Die Autoren haben bei ihren Laboruntersuchungen steigende Konzentration verschiedener Adenoviren - darunter den im Rahmen von Gentherapiestudien häufig eingesetzten Serotyp Ad5 - mit dem Blutplasma von 18 freiwilligen Spendern vermischt. Anschließend analysierten sie die Konzentration eines Indikators der Komplementaktivierung, des Proteins C3a-desArg, eines der so
genannten Anaphylatoxine. Zu ihrer Überraschung beobachteten die Forscher bei Viruskonzentrationen, die auch im Blut von Gentherapie-Patienten während einer Gentherapie auftreten können, eine massive Aktivierung des Komplementsystems. Diese trat bei all jenen Probanden auf, die in ihrem Leben schon mit natürlichen Adenoviren Kontakt hatten und Antikörper gegen den Erreger aufwiesen.
“Wir müssen von einer erheblichen Aktivierung des Komplementsystems als Folge einer Infusion hoher Dosen von Adenoviren in die Blutbahn des Menschen ausgehen”, interpretiert Dr. Cichon diese Befunde. Bei der tödlichen Gentherapiestudie waren Jesse Gelsinger 300 Milliarden (3x1011) Viruspartikel pro Kilogramm Körpergewicht in
die Leberarterie infundiert worden. Dies entspricht einer Virendosis von 7,5 Milliarden (7,5x109) Partikeln pro Milliliter Blutplasma. Bei einer entsprechenden, in isoliertem Plasma im Reagenzglas eingesetzten Virusdosis, fanden die Wissenschaftler als Reaktion des Komplementsystems erstaunliche 3000 Nanogramm (ng) des Proteins C3a-desArg pro Milliliter Blutplasma, der Normalwert liegt unter 150 Nanogramm pro Milliliter. Aus klinischen Studien mit schwerverletzten Patienten (insbesondere nach Verbrennungen und Unfällen mit massivem Gewebeuntergang wie z.B. nach schweren Autounfällen) ist bekannt, dass eine starke Komplementaktivierung auftreten kann. Erreicht deren Wert im Blut eine Schwelle von 1000 ng C3a-desArg/ml Plasma besteht ein stark erhöhtes Risiko für die Entwicklung unkontrollierter Entzündungsreaktionen, in deren Folge ein Leber- und Nierenversagen sowie schwere Lungenperfusionstörungen auftreten können. Die im Labor nach Adenovirusgabe induzierte Komplementaktivierung liegt mit einem Wert von 3000 ng C3a-desArg /ml Plasma um das Dreifache über dem klinisch ermittelten Schwellenwert.
Die Forscher betonen, zur Zeit sei unklar, in welchem Umfang sich die im Reagenzglas erhobenen Daten direkt auf Gentherapiepatienten übertragen lassen. Da aber Adenoviren weiterhin vielversprechende Vektoren für Gentherapien bei Krebs seien, müsse dem Komplementsystem als möglichem Auslöser für Nebenwirkungen in künftigen klinischen Studien besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. “Die Gefahr, dass sich bei der Gabe höherer Virusdosen ähnliches abspielt wie bei Jesse Gelsinger ist groß”, sagt Dr. Cichon. Prof. Burger ergänzt: “Unser neues Meßsystem reagiert wie eine Art Sonde. Sie schlägt aus, wenn bei Patienten mit
lebensbedrohlichen Nebenwirkungen einer Gentherapie mit Adenoviren gerechnet werden muß.” Denkbar sei bei Risikopatienten dann der Einsatz bekannter
Medikamente, die einer übermäßigen Komplementaktivierung vorbeugen helfen können.
Es sei wichtig, betonen die Forscher, dass potentielle Patienten Vertrauen in die molekularen Therapiemethoden gewinnen. Die Diskussion um mögliche Nebenwirkungen und die Entwicklung von Ansätzen zu ihrer Vermeidung sei dabei ein wichtiger Baustein. Zur Zeit werden Nebenwirkungen von Gentherapiestudien in der Fachwelt jedoch kaum diskutiert, da konkrete klinische Daten, die als Diskussionsgrundlage dienen könnten, auf Grund der Beteiligung von Firmen kaum publiziert werden. Die amerikanischen Gesundheitsbehörden versuchen zur Zeit, die Rechtsprechung zu ändern, um diesem Dilemma abzuhelfen, ein Vorstoß, der auch für die europäischen Gesundheitsbehörden beispielhaft sein könnte.
* Complement activation by recombinant adenoviruses
G.Cichon, S Boeckh-Herwig1, HH Schmidt2, E Wehnes3, T Müller 4, P Pring-Akerblom5 and R. Burger6
1 Institut für Biologie, Abteilung Molekulare Zellbiologie, Humboldt-Universität Berlin am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, Berlin; 2 Abteilung für
Gastroenterologie, Charité Berlin; 3 Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, Berlin; 4 Abteilung für Molekulare und klinische Kardiologie, Franz-Volhard-Klinik, Charité, Berlin;5 Abteilung für Virologie, Medizinische Hochschule Hannover; 6 Robert-Koch-Institut, Abteilung für Infektionskrankheiten, Berlin.
Barbara Bachtler
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