Ein sonderbar stummes Allel
Das Forscherteam von Prof. Ralph Kettritz hat einen Mechanismus entdeckt, mit dem weiße Blutkörperchen ein an Autoimmunerkrankungen beteiligtes Gen ausschalten.
Wenn man sich das Immunsystem als Heer vorstellt, dann sind die weißen Blutkörperchen – die Neutrophilen – die Infanterie. Dieses Fußvolk erleidet ständig so schwere Verluste, dass täglich 100 Milliarden neue Rekruten aus den Stammzellen im Knochenmark einberufen werden. Nach einem Schnellehrgang und Spezialisierung werden sie in die Blutbahn beordert, wo sie nach Eindringlingen Ausschau halten. Sobald ein Neutrophil ein Virus oder Bakterium entdeckt, dringt es durch die Blutgefäßwand, verfolgt den Gegner und umhüllt ihn. Unabhängig davon, ob es gegen den Eindringlich siegreich ist, wird das Neutrophil innerhalb weniger Stunden bzw. Tage zerstört. Denn sonst würde es zum Söldner und den Körper in einer Autoimmunerkrankung angreifen.
Eine dieser Erkrankungen erforschen seit vielen Jahren Prof. Ralph Kettritz und sein Team am Experimental and Clinical Research Center, einem Gemeinschaftsprojekt von MDC und dem Charité-Campus Berlin Buch: die ANCA-assoziierte systemische Vaskulitis kleiner Gefäße. Diese Autoimmunerkrankung entsteht, wenn Neutrophile das Protein PR3 produzieren. Anders als bei Gesunden bildet der Organismus von Patienten dagegen Autoantikörper namens ANCA (Anti-Neutrophile cytoplasmatische Antikörper). Die ANCA aktivieren fälschlicherweise die weißen Blutkörperchen, während sie sich noch in den Blutgefäßen befinden. Dies schädigt die Zellwände.
„Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielt das Protein CD177“, sagt Kettritz. „CD177 wird von Neutrophilen gebildet. Sie sind die einzigen Körperzellen, an deren Oberfläche CD177 auftritt. Das Protein sorgt dafür, dass große Mengen PR3 auf der Zelloberfläche freigelegt wird, wo es für die ANCA-Antikörper sichtbar ist.“
Um die Ursachen der systemischen Vaskulitis kleiner Gefäße zu erkennen, muss man den Prozess verstehen, durch den ein Neutrophil das CD177-Gen aktiviert und es nutzt, um Boten-RNA und das Protein herzustellen. Das An- und Ausschalten von Genen sind für die Zell- und Gewebefunktionen so maßgeblich, dass diese Regulation seit Jahrzehnten ein zentrales Thema der biologischen Forschung ist. Jeder bisher entdeckte Aspekt dieses Systems hat sich als bedeutend für die Gesundheit und Krankheit erwiesen. Wird, wie jetzt von Kettritz und seinen Kollegen, eine neue Art der Gen-Kontrolle entdeckt, so dürfte dies weitreichende Folgen haben. Ihre Ergebnisse veröffentlichen die Forscher im „Journal of Experimental Medicine“.
Die Wahl zwischen elterlichen Allelen
Vor kurzem schloss sich das Team von Kettritz mit der Forschungsgruppe um Friedrich Luft zusammen, um gemeinsam herauszufinden, wodurch die Produktion von CD177 bei Neutrophilen gesteuert wird. Sie entnahmen zunächst 167 gesunden Testpersonen Blut, isolierten die Neutrophile und prüften, ob bei diesen Zellen CD177 vorhanden war. Dabei ahnten sie noch nicht, welche überraschende Wendung ihr Forschungsprojekt nehmen sollte.
Die Neutrophilen der gesunden Testpersonen wiesen ein ungewöhnliches Muster auf. Bei etwa fünf Prozent der Testgruppe produzierten die Neutrophilen überhaupt kein CD177. Bei den restlichen Studienteilnehmern fanden die Forscher Zellen mit dem Protein – aber nicht auf jedem Neutrophil. Manche wiesen kein CD177 auf. Bei diesen Probandinnen und Probanden gab es also zwei Arten von Zellen. Das Mengenverhältnis war individuell verschieden: Bei einigen Testpersonen produzierten fast alle Neutrophile CD177 und nur ein kleiner Prozentsatz der Zellen war frei von dem Protein, während es bei einigen wenigen Fällen genau anders herum war. Ungewöhnlich war, dass sich das Verhältnis zwar von Testperson zu Testperson unterschied, bei jedem und jeder Einzelnen jedoch ein Leben lang gleichblieb.
„Unser Team hatte bereits zuvor festgestellt, dass Patienten mit ANCA-assoziierter Vaskulitis der kleinen Gefäße einen höheren Anteil von Neutrophilen mit PR3 auf der Oberfläche aufwiesen als die Kontrollgruppe. Und: Je höher dieser prozentuale Anteil, desto schlechter das klinische Ergebnis,“ sagt Kettritz. „Es zeigte sich, dass diese Zellen identisch mit den Neutrophilen waren, die CD177 exprimieren. Es ist also von hoher klinischer Bedeutung, die Systeme zu verstehen, die die Produktion dieses Moleküls steuern.“
Offensichtlich waren die Neutrophilen dieser Menschen grundsätzlich in der Lage, das Protein zu produzieren. Einige der Zellen unterließen dies jedoch. Nur warum? Eine genauere Untersuchung der Zellen brachte etwas noch Ungewöhnlicheres hervor.
Jedes der Neutrophilen der Testpersonen – ebenso wie alle anderen Zellen – trug zwei Kopien des CD177-Gens, eine von jedem Elternteil. Ist ein Gen in einer Zelle aktiv, so werden meistens beide Kopien – die Allele – zur Herstellung von RNA und Proteinen genutzt. Durch das Ausschalten einer Genkopie wird normalerweise auch das zweite Allel inaktiv. Doch Ralph Kettritz und Claudia Eulenberg stellten fest, dass bei allen Testpersonen immer nur ein CD177-Allel genutzt wird, und zwar immer dasselbe. Das andere Allel ist dauerhaft ausgeschaltet.
Es war nicht das erste Mal, dass Wissenschaftler das lebenslange Ausschalten eines Allels beobachtet hatten. Dasselbe geschieht beim genomischen Imprinting, das die Anzahl von RNA und Proteinen begrenzt, die durch bestimmte Schlüssel-Gene produziert werden. Das Imprinting betrifft einige hundert Gene, deren Output eingeschränkt werden muss. Es kann auch eine weitere Auswirkung haben: Eine Kopie des Gens kann defekt sein und so eine Krankheit verursachen, während die andere Kopie gesund ist. In diesem Fall ist die Auswahl des richtigen Allels ausschlaggebend für die Gesundheit.
Doch die so geprägten Gene folgen einem strengen Muster, das bei allen Kindern eines Elternpaares gleich ist: Entweder wird das Allel des Vaters ausgeschaltet, oder das der Mutter. In jedem Fall sind bei allen Kindern dieselben Allele inaktiv.
Nicht jedoch im Fall von CD177. Als die Forscher die Familien von Testpersonen untersuchten, stellten sie fest, dass die Neutrophile des einen Kindes das väterliche CD177-Allel ausgeschaltet hatten, während beim Geschwisterkind das mütterliche Allel inaktiv war. Sobald der Körper des Kindes das erste Neutrophil bildete, entschieden sich sämtliche darauffolgende Zellen für dasselbe Allel.
Ein Gen und seine Umgebung
Es gibt andere Muster, nach denen Zellen Gene ausschalten, doch diese ergeben ein uneinheitliches Patchwork, bei dem ein Allel bei manchen Zellen an- und in ausgeschaltet ist.
Das Ausschalten von Genen basiert auf epigenetischen Mechanismen, die meist damit zu tun haben, wie das riesige DNA-Molekül in dem winzigen Zellkern verstaut ist. Durch die Art des „Verpackens“ sind einige Sequenzen des Erbguts für andere Moleküle erreichbar, während andere versteckt und unzugänglich bleiben. Grundsätzlich muss ein DNA-Strang „offen“ sein, damit eine molekulare Maschine daran anbinden und ihn in RNA abgeschrieben werden kann.
In den verschiedenen Zellarten wird die DNA auf jeweils stereotypische Weise gepackt, sodass einige Sequenzen offen und andere geschlossen sind. Dieses Muster wandelt sich im Laufe der Zeit und verändert so auch die Moleküle, die eine Zelle produziert. Dies beeinflusst die Eigenschaften, Spezialisierung und Aktivitäten der Zelle. Falls epigenetische Mechanismen für das Ausschalten von Genen in den Neutrophilen verantwortlich sind, lassen sie sich am besten beobachten, indem man die Entwicklung der weißen Blutkörperchen aus den Blutstammzellen (HSC) – aus denen Neutrophile und andere Blutzellen entstehen – genau betrachtet.
Die allerersten Neutrophile bilden sich im menschlichen Körper etwa zur Zeit der Geburt. Die Forscher entnahmen HSC und Neutrophile aus dem Nabelschnurblut eines Neugeborenen. Dadurch konnten sie genau ermitteln, wann und wie die Neutrophile eines der CD177-Allele ausschalten. Die aus dem Nabelschnurblut gewonnenen Stammzellen züchtete das Team in Laborkulturen heran. Sie fanden heraus, dass HSC vor ihrer Spezialisierung beide Allele übertrugen. Sobald jedoch die Zelldifferenzierung die ersten Neutrophile hervorbrachte, war eines der Allele ausgeschaltet. In den Zellkulturen und in den Zellen des Neugeborenen war es dasselbe Allel, das ausgeschaltet wurde.
Das Forscherteam konnte dies auf einen chemischen Prozess zurückführen, mit dem Zellen Abschnitte ihrer DNA „absperren“. Enzyme im Zellkern versehen DNA-Sequenzen und Proteine, die mit naheliegenden Genen in Verbindung stehen, mit kleinen chemischen Markern, den Methylgruppen. Dadurch zieht sich die DNA normalerweise zu einem eng verschnürten Paket zusammen und blockiert so Ansatzpunkte für den RNA-Transkriptionsapparat.
Bestimmte Moleküle – Transkriptionsfaktoren genannt – müssen zu Sequenzen im Umfeld des CD177-Gens gelangen, um die molekulare Maschine mit aufzubauen, die die RNA des Gens produziert. Eins der Allele des Neutrophils verhinderte dies, denn die Bindungsstellen für die beiden Transkriptionsfaktoren c-Jun und c-Fos waren durch Methylierung blockiert. In einigen Zellen war der epigenetische Mechanismus aktiver, sodass der Zugang zu beiden Allelen blockiert wurde. Das erklärt, weshalb einige Neutrophile weder RNA noch Proteine des CD177-Gens produzieren konnten. Das Ergebnis: Es entstehen zwei unterschiedliche Neutrophil-Populationen.
CD177 ist das erste Neutrophil-Molekül, bei dem ein derartiges Verhalten nachgewiesen werden konnte. Doch Ralph Kettritz zufolge gibt es möglicherweise noch mehr. „Oft lässt sich schwer unterscheiden, ob RNA und Proteine von väterlichen oder mütterlichen Allelen stammen. Es kann also sein, dass es ähnliche Fälle gibt, die bisher nur unentdeckt geblieben sind“, erklärt er. „Vielleicht sind es sogar sehr viele. Fürs erste jedoch klärt unsere Entdeckung dieser ungewöhnlichen Art der Gen-Stummschaltung eine Reihe von Fragen im Zusammenhang mit Neutrophil-vermittelten Autoimmunerkrankungen.“
Claudia Eulenberg-Gustavus1, Sylvia Bähring1, Philipp G. Maass2,3, Friedrich C. Luft1, and Ralph Kettritz1,4: „Gene silencing and a novel monoallelic expression pattern in distinct CD177 neutrophil subsets.” The Journal of Experimental Medicine. doi:10.1084/jem.20161093
1Experimental and Clinical Research Center, a joint cooperation between the Charité Medical Faculty and the Max-Delbrück Center for Molecular Medicine at the Charité and 2Max-Delbrück-Center for Molecular Medicine, Berlin, Germany, 3Department of Stem Cell and Regenerative Biology, Harvard University, Cambridge, Massachusetts, USA, 4Nephrology and Intensive Care Medicine, Campus Virchow, Medical Faculty of the Charité, Berlin, Germany
Featured image: Neutrophil white blood cells (leukocytes) by Dr Graham Beards. Licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.