Per Deep Learning zur präzisen Krebstherapie
Jahr für Jahr werden fast fünfzig neue Krebstherapien zugelassen. Eigentlich ist das eine gute Nachricht. „Doch für die Erkrankten und die behandelnden Ärzt*innen wird es immer schwieriger, den Durchblick zu behalten und die Behandlungsmethoden auszuwählen, von denen die Betroffenen mit ihren ganz individuellen Tumormerkmalen am meisten profitieren“, sagt Dr. Altuna Akalin, der Leiter der Technologieplattform „Bioinformatics and Omics Data Science“ am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie des Max Delbrück Center (MDC-BIMSB). Der Wissenschaftler arbeitet schon länger daran, Werkzeuge zu entwickeln, die mithilfe künstlicher Intelligenz eine präzise Diagnose stellen und im Anschluss die jeweils beste, auf die einzelnen Patient*innen zugeschnittene Therapieform ermitteln.
Gemeinsam mit seiner Arbeitsgruppe hat Akalin nun ein Toolkit namens Flexynesis entwickelt, das nicht nur auf klassischem maschinellen Lernen beruht, sondern mittels Deep Learning ganz unterschiedliche Datentypen gleichzeitig auswertet – zum Beispiel Multi-Omics-Daten oder auch speziell verarbeitete Texte und Bilder, etwa CT- oder MRT-Aufnahmen. „Auf diese Weise verhilft es Ärzt*innen zu besseren Diagnosen, Prognosen und Behandlungsstrategien für ihre Patient*innen“, sagt Akalin. Er und sein Team haben Flexynesis jetzt in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ vorgestellt. Erst- und ko-korrespondierender Autor der Publikation ist Dr. Bora Uyar aus seiner Arbeitsgruppe.
„Wir sind an mehreren translationalen Projekten mit Ärzt*innen beteiligt, die gerne anhand von Multi-Omics-Daten Biomarker identifizieren würden, die mit Krankheitsverläufen korrelieren“, sagt Uyar. „Obwohl dafür schon viele Deep-Learning-basierte Methoden entwickelt wurden, haben sich die meisten als unflexibel erwiesen: Sie waren an bestimmte Modellierungsaufgaben gebunden oder schwer zu installieren und anzuwenden.“ Diese Lücke habe sein Team motiviert, Flexynesis als ein Toolkit zu entwickeln, das für verschiedene Modellierungsaufgaben flexibel einsetzbar ist und auf PyPI, Guix, Docker, Bioconda und Galaxy verfügbar ist. „So können es andere problemlos in ihre eigenen Pipelines integrieren“, erklärt Uyar.
Das Tool findet den Ursprung der Erkrankung
Deep Learning ist ein Teilbereich des maschinellen Lernens, bei dem nicht nur einfache neuronale Netze mit einer oder zwei Rechenschichten verwendet werden, sondern tiefe Netze, die mit vielen hundert oder gar tausend solcher Schichten arbeiten. „Krebs und andere komplexe Krankheiten entstehen durch das Zusammenspiel unterschiedlicher biologischer Faktoren, zum Beispiel auf der Ebene der DNA, der RNA und der Proteine“, erläutert Akalin. Charakteristische Veränderungen auf diesen Ebenen – etwa die Menge des hergestellten HER2-Proteins bei Brust- oder Magenkrebs – werden vielfach schon erfasst, meist aber noch nicht im Zusammenspiel mit allen anderen therapierelevanten Faktoren analysiert.
Hier setzt Flexynesis an. „Vergleichbare Werkzeuge waren bisher oft wenig benutzerfreundlich oder nur für bestimmte Fragestellungen geeignet“, sagt Akalin. „Flexynesis hingegen kann verschiedene medizinische Fragen gleichzeitig beantworten: zum Beispiel um welche Art von Krebs es sich genau handelt, welche Medikamente in diesem Fall besonders wirksam sind und wie sie sich auf die Überlebenschancen der Patient*innen auswirken.“ Auch helfe das Tool dabei, geeignete Biomarker für die Diagnose und die Prognose zu identifizieren oder – wenn man Metastasen unklarer Herkunft entdecke – den Ursprungstumor auszumachen. „Somit wird es einfacher, für alle Krebspatient*innen umfassende und personalisierte Behandlungsstrategien zu entwickeln“, sagt Akalin.
Datenintegration in der Klinik – auch ohne KI-Erfahrung
Erst vor knapp einem Jahr hatte der Forscher ein weiteres KI-basiertes Werkzeug namens Onconaut vorgestellt. Es hilft ebenfalls bei der Suche nach der passenden Krebstherapie. „Onconaut nutzt dafür bekannte Biomarker, Ergebnisse klinischer Studien und die aktuellen Leitlinien – arbeitet also nach einem ganz anderen Prinzip“, erläutert Akalin. „Das Tool wird jetzt nicht überflüssig, sondern kann Flexynesis sinnvoll ergänzen.“
Eine der größten Hürden, die sein neues Werkzeug zumindest hierzulande noch überwinden muss: Multi-Omics-Daten werden bisher in den Kliniken nicht routinemäßig erhoben. „In den USA hingegen diskutiert man sie in den Tumorkonferenzen, bei denen Ärzt*innen verschiedener Fachrichtungen die Therapie für ihre Patient*innen gemeinsam planen, schon häufig“, berichtet Akalin. Und sein Team habe gezeigt, dass sich anhand dieser Daten sehr gut vorhersagen lasse, ob eine bestimmte Behandlung anschlägt oder nicht. „In Deutschland nutzt man detaillierte Multi-Omics-Daten bisher nur in Vorzeigeprogrammen wie beispielsweise dem MASTER-Programm zu seltenen Krebserkrankungen“, sagt Akalin. Doch das werde sich womöglich bald ändern.
Der Wissenschaftler betont, dass die Nutzer*innen seines Tools, das sich momentan vor allem an Ärzt*innen und klinische Forschende wendet und kontinuierlich aktualisiert wird, keine besondere Erfahrung im Umgang mit Deep Learning haben müssen. „Ich hoffe, dass es die Hürden für Krankenhäuser und Forschungsgruppen senkt, die multimodale Datenintegration – also die gleichzeitige Analyse von Omics-Daten, schriftlichen Befunden und Bildern – auch ohne KI-Expert*innen an ihrer Seite vorzunehmen“, sagt Akalin. Flexynesis lasse sich ganz einfach im Internet aufrufen. Auch eine Anleitung zur Nutzung des Tools findet sich dort.
Text: Anke Brodmerkel
Weitere Informationen
Flexynesis
Mit KI die passende Krebstherapie finden
Das MASTER-Programm
Literatur
Bora Uyar, et al. (2025): „Flexynesis: A deep learning toolkit for bulk multi-omics data integration for precision oncology and beyond“. Nature Communications, DOI: 10.1038/s41467-025-63688-5
Kontakte
Dr. Altuna Akalin
Gruppenleiter „Bioinformatics and Omics Data Science“
Max Delbrück Center
+49 30 9406-4271
altuna.akalin@mdc-berlin.de
Jana Schlütter
Stellvertretende Leiterin Kommunikation
Max Delbrück Center
+49 30 9406-2121
jana.schluetter@mdc-berlin.de oder presse@mdc-berlin.de
- Max Delbrück Center
Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft legt mit seinen Entdeckungen von heute den Grundstein für die Medizin von morgen. An den Standorten in Berlin-Buch, Berlin-Mitte, Heidelberg und Mannheim arbeiten unsere Forschenden interdisziplinär zusammen, um die Komplexität unterschiedlicher Krankheiten auf Systemebene zu entschlüsseln – von Molekülen und Zellen über Organe bis hin zum gesamten Organismus. In wissenschaftlichen, klinischen und industriellen Partnerschaften sowie in globalen Netzwerken arbeiten wir gemeinsam daran, biologische Erkenntnisse in praxisnahe Anwendungen zu überführen – mit dem Ziel, Frühindikatoren für Krankheiten zu identifizieren, personalisierte Behandlungen zu entwickeln und letztlich Krankheiten vorzubeugen. Das Max Delbrück Center wurde 1992 gegründet und vereint heute eine vielfältige Belegschaft mit rund 1.800 Menschen aus mehr als 70 Ländern. Wir werden zu 90 Prozent durch den Bund und zu 10 Prozent durch das Land Berlin finanziert.