Der geistesabwesende Blick aus dem Zugfenster und die Neurobiologie dahinter

Während wir tagträumend aus dem Zug und auf die vorübersausende Landschaft blicken, sind unsere Augen und unser Gehirn mit einem aktiven Prozess befasst, der gute Einblicke in dessen neurobiologische Organisation ermöglicht. In der Novemberausgabe der MDC Lectures erläuterte der Neurobiologe Dr. Botond Roska, wie neuronale Strukturen die Grundlage für die Fähigkeit des Gehirns bilden, sensorische Reize zu „berechnen“.

Botond Roska und James Poulet. Foto: Dario J. Laganà.

Die Maschinenmetapher ist ein Leitprinzip wissenschaftlichen Denkens, seit Descartes das Wesen des Menschen in Geist und Körper teilte und darüber nachdachte, wie wohl eines das andere beherrscht. Im heutigen Zeitalter von Hochleistungsrechnern und „künstlicher Intelligenz“ haben Begriffe wie Netzwerk, Modul und Rechenleistung sehr starken Einfluss darauf, wie Wissenschaftler geistiges Verhalten betrachten. Wenn diese Begriffe mehr sind als bloße Metaphern, müssten sich die zugrundeliegenden Prozesse in der physischen Organisationsstruktur des Gehirns wiederfinden. Diese Vorstellung spornte Wissenschaftler wie Dr. Botond Roska vom Friedrich Miescher Institute for Biomedical Research an, in Netzwerken von Neuronen und Geweben nach Strukturen zu suchen, welche die „Rechenbasis“ des Gehirns zur Verarbeitung von Sinneseindrücken bilden könnten.

Roska kam am 25. November 2016 für einen Vortrag in der Seminarreihe „MDC Lectures“ an das MDC, in deren Rahmen jedes Jahr ein prominenter Gastredner pro Forschungsbereich des Instituts eingeladen wird. Der Wissenschaftler wurde von Dr. James Poulet und Prof. Carmen Birchmeier aus dem Programm „Krankheiten des Nervensystems“ empfangen. In seinem Vortrag mit dem Titel „The first steps of vision: cell types, circuits and repair“ zerlegte Roska einige frühe Schritte der visuellen Reizverarbeitung, bei denen konfiguriert wird, wie Säugetiere bestimmte Reize wahrnehmen und auf sie reagieren. Diese Arbeit nutzt eine Reihe von Verfahren wie Genetik, rechnergestützte Ansätze und im Labor gezüchtete „künstliche Netzhäute“ sowie Hirngewebe.

Beginnend mit ganz grundlegenden Strukturen der Retina beschrieb Roska Anordnungen einzelner Stäbchen und Zapfen, die zuerst durch visuelle Reize stimuliert werden. Die Struktur ihrer Verbindungen sieht er als erste Ebene neuraler Rechenleistung, die unter anderem durch die Verteilung von Aufgaben auf 70 Arten von Zellen in der Netzhaut abgewickelt wird. Roska verfolgte den Verlauf von Nervenimpulsen auf ihrem Weg zu bestimmten Regionen der Sehrinde und auch einige der Filtermechanismen, die sie auf diesem Weg durchlaufen.

Visuelle Reize werden nicht einfach passiv empfangen, sondern lösen auch Verhaltensreaktionen aus. Um die genetische Grundlage dieser Verbindung zu erforschen, brauchte die Forschungsgruppe um Roska eine einfache und gut messbare Art von Reaktion. Gefunden wurde sie in einem Verhaltensmuster namens „horizontaler optokinetischer Reflex.“ Das erleben wir zum Beispiel, wenn wir aus dem Zugfenster schauen und die Landschaft rasch an uns vorbeiziehen lassen. Der Reflex sorgt dafür, dass sich die Augen rasch hin- und herbewegen, und dabei geschieht etwas ausgesprochen Interessantes: In einer Richtung nehmen wir Objekte wahr und sammeln Informationen zu ihnen, in der anderen jedoch nicht.

Bei einem menschlichen genetischen Defekt namens „kongenitaler (angeborener) Nystagmus“ ist dieser Reflex gestört. Die Betroffenen können die horizontale Bewegung ihrer Augen nicht kontrollieren, die dann in keiner Richtung Informationen aufnehmen. Das Problem wurde mit Defekten an einem Gen namens FRMD7 in Verbindung gebracht. Die Wissenschafter fanden heraus, dass das Protein FRMD7 speziell in sogenannten Starburst-Amakrinzellen gebildet wird, benannt nach ihrer sternförmig sich ausbreitenden Form. Sie verbinden die Netzhaut mit bestimmten Nervenzellen, den richtungssensitiven Ganglienzellen. Mithilfe präziser Untersuchungen zu Genetik und Funktion konnte die Laborgruppe zeigen, wie Mutationen von FRMD7 bei Mäusen die Struktur der Verbindungen zwischen diesen beiden Arten von Zellen stören können. Dies unterbricht den Reflex, der das Auge entlang der horizontalen Achse leitet, lässt jedoch die vertikale Aktivität und Informationsverarbeitung unangetastet. Wie Roska betont, zeigt dies unter anderem, dass bei der jeder Sinneswahrnehmung zugrundeliegenden Informationsverarbeitung und der Abwicklung von Verhaltensreaktionen spezialisierte Zelltypen ganz bestimmte Aufgaben übernehmen. Weitere Forschungen zur Funktion der Zelltypen und ihrer Verbindungen würden höchstwahrscheinlich weitere Verarbeitungsschritte und Ebenen des „Rechensystems“ offenbaren, das dies möglich macht.

Dem Vortrag folgte eine angeregte Diskussion, auch ein Zeichen der Anerkennung für die Art und Weise, wie Roska und Kollegen eines der anspruchsvollsten Forschungsthemen unserer Zeit angegangen sind. Um die Struktur des Gehirns Verhaltensmustern zuordnen zu können, ist Forschungsarbeit an hoch strukturierten Systemen nötig, die sich präzise kartografieren, messen und kontrollieren lassen. Die elegante, interdisziplinäre Arbeit von Roska zur Netzhaut und deren Vernetzung mit der Sehrinde ist hier wohl ein vielversprechender Ausgangspunkt.