Vom Lebenszyklus der Proteine

Manche Proteine haben eine ungewöhnliche Eigenschaft: Je älter sie werden, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie abgebaut werden. Dieses überraschende Ergebnis hat nun ein Forschungsteam vom Max-Delbrück-Centrum in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) im Fachjournal Cell veröffentlicht. Sie haben zum ersten Mal den Lebenszyklus tausender Proteine verfolgt. Die Ergebnisse der Grundlagenforschung sind für Krankheiten relevant, bei denen zu viele Genkopien vorliegen.

Wie verläuft eigentlich das Leben eines Proteins? Zuerst wird der Protein-Bauplan von den Genen abgelesen und in eine Kette von Proteinbausteinen übersetzt. Diese Kette „faltet“ sich zu einem dreidimensionalen Molekül und erfüllt dann verschiedene Aufgaben – beispielsweise als Strukturelement, als molekulare Maschine oder als Transporter. Das Leben eines Proteins endet, wenn es durch einen molekularen Schredder wieder in seine Bestandteile zerlegt wird.

Über die Sterblichkeit der Proteine ist jedoch erstaunlich wenig bekannt. Nach der vorherrschenden Theorie haben alte und junge Proteine dasselbe Risiko, abgebaut zu werden. Entsprechend dieser Vorstellung verhalten sich Proteine wie radioaktive Atome, die rein zufällig zerfallen: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Atom innerhalb einer Halbwertszeit zerfällt, ist immer genau 50%, ganz egal wie lange das Atom schon existiert. Die „Halbwertszeit“ eines Proteins hat daher einen festen Platz im Vokabular des Laborschaffenden.

Ein Zehntel der Proteine folgt dem Dogma nicht

Tatsächlich verhält sich ein Teil der Proteine in der Zelle ganz anders, als bisher angenommen. Etwa ein Zehntel der analysierten Proteinspezies wird mit zunehmendem Alter stabiler. Diesen überraschenden Befund stellte ein internationales Forschungsteam um Prof. Matthias Selbach vom MDC und der Charité – Universitätsmedizin Berlin nun in der renommierten Fachzeitschrift Cell vor. Die Forscher arbeiteten unter anderem mit dem Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung zusammen, um den Lebenswandel von Tausenden Proteinen von der Synthese bis zur Entsorgung zu verfolgen. Damit haben sie als Erste einen systematischen Überblick über den Zeitverlauf dieser Abbauprozesse für Tausende Proteine in der Zelle erstellt.

Das Leben der Proteine verfolgt

Um den Lebenszyklus der Proteine in der Zelle zu verfolgen, fütterten die Wissenschaftler Kulturen von Menschen- und Mauszellen mit dem künstlichen Proteinbaustein AHA, der daraufhin in die Proteine eingebaut wurde. Die mit AHA markierten Proteine detektierten die Forscher dann mit Massenspektrometern. Diese Geräte funktionieren wie feinste Waagen und können die Massen unzähliger einzelner Moleküle katalogisieren, also auch Proteine mit und ohne AHA voneinander unterscheiden. Für ein Zeitfenster von einer bis zu 32 Stunden verfolgten die Forscher das Schicksal der markierten Proteine und konnten so ihren Lebenswandel bis hin zur Entsorgung nachvollziehen.

Das hier dargestellte Ribosom ist ein Komplex aus RNA (hier gelb) und zahlreichen Proteinen. Türkis dargestellt sind die Proteine mit den ungewöhnlichen Abbaueigenschaften; rot, das Protein mit gewöhnlicher Abbaukinetik; grau, experimentell nicht bestimmbar.

Proteine werden überwiegend entsorgt, der Rest bleibt stabil

Aus ihren Messreihen folgerten die Forscher, dass bestimmte Sorten von Proteinen im Überschuss hergestellt werden. Ein Großteil der Neuproduktion wird gleich wieder abgebaut, während der Rest stabil bleibt. Besonders häufig findet man Proteine mit diesem Verhalten in Proteinkomplexen, speziellen Verbänden aus verschiedenen Proteinuntereinheiten. Vermutlich schützt der Einbau in solche Komplexe die Proteine vor dem Abbau. „Mich erinnert das an das Schlüpfen von Meeresschildkröten am Strand“, erklärt Studienleiter Matthias Selbach: „Viele Jungtiere fallen auf dem Weg zum Meer Raubvögeln zum Opfer. Sobald sie es aber einmal ins Wasser geschafft haben, sind sie geschützt.“

Über die biologische Funktion dieses Phänomens lässt sich bisher nur spekulieren. „Die Proteine, die im Überschuss hergestellt werden, könnten als ständig vorproduziertes Fundament für den Komplex dienen. Die Zelle kann sich die Koordination der vielen Untereinheiten sparen und müsste nur die Herstellung einer limitierenden Untereinheit steuern. Das überschüssige Material wird einfach abgebaut“, vermutet der Doktorand Erik McShane und Erstautor der Arbeit.

Die Folgen einer Überdosis Gene

Die Ergebnisse sind auch für Erkrankungen relevant, bei denen zu viele Kopien von manchen Genen vorliegen. Das ist zum Beispiel bei Trisomien der Fall: hier liegen ganze Chromosomen nicht zwei-, sondern dreimal vor und es werden dementsprechend auch zu viele Proteine produziert. Das führt häufig zu einem inneren Ungleichgewicht und zu Stress für die Zelle.

Für die Proteine mit den neu entdeckten Eigenschaften gilt das aber offenbar nicht. Liegen für diese zu viele Genkopien vor, baut die Zelle die überschüssig produzierten Proteine einfach ab und stellt so das Gleichgewicht wieder her. „Wir können jetzt den Zusammenhang zwischen Gendosis und daraus resultierender Proteinmenge besser erklären. Die Menge an Protein ist letztlich entscheidend für die Funktion der Zelle“, erklärt Selbach.

Für den Organismus bedeutet eine Überdosis Gene meistens den Tod schon vor der Geburt. Bei der Trisomie des Chromosoms 21, die zum Down-Syndrom führt, sind die Folgen weniger gravierend. Weshalb die Auswirkungen so unterschiedlich sind, ist immer noch unklar. Möglicherweise spielt eine Rolle, welchem Lebenszyklus die Proteine des betroffenen Chromosoms unterliegen.

Deshalb möchte Selbach im Anschluss an die Studie in Cell das Thema weiter vertiefen: „Wir schauen uns nun weitere Zellen mit Erbgutveränderungen an, um die Folgen von vervielfachten Genabschnitten besser zu verstehen.“

Erik McShane1, Celine Sin2, Henrik Zauber1, Jonathan N. Wells3, Neysan Donnelly4, Xi Wang1, Jingyi Hou1, Wei Chen1, Zuzana Storchova4,5, Joseph A. Marsh3, Angelo Valleriani2 and Matthias Selbach1,6 (2016): „Kinetic analysis of protein stability reveals age-dependent degradation.“ Celldoi:10.1016/j.cell.2016.09.015

1Max-Delbrück–Centrum für Molekulare Medizin, Berlin; 2Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, Potsdam; 3MRC Human Genetics Unit, University of Edinburgh, Edinburgh, Vereinigtes Königreich; 4Max-Planck-Institut für Biochemie, Martinsried; 5TU Kaiserslautern, Kaiserslautern; 6Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin

Beitragsbild: Fluoreszierende Chromosomen unter dem Mikroskop. Das Chromosom 11 ist magenta, das Chromosom 5 grün gefärbt, beide liegen hier dreifach statt zweifach vor. Alle anderen Chromosomen erscheinen blau. Bild: Neysan Donnelly, MPI für Biochemie.