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Der vollendete Wissenschaftler

Am 8. Juli wurde Walter Birchmeier, der frühere Wissenschaftliche Direktor des MDC, 70 Jahre alt

Vor ein paar Jahren bekam Walter Birchmeier nach der Einreichung eines Artikels bei Nature Reviews Cancer von einem der Gutachter folgendes Kompliment:

"Das ist ein sehr schöner Übersichtsartikel zur langen Geschichte des Wnt-Signalwegs, und ich könnte mir keinen Besseren als Walter Birchmeier für einen solchen Beitrag vorstellen. Das sage ich nicht, weil er schon so alt ist, sondern weil er unmittelbarer Zeuge der meisten wichtigen Entwicklungen im Bereich der Wnt-Forschung war, oder diese unmittelbar selber beigetragen hat." (Kursive Textstelle hervorgehoben RH)

Um es klarzustellen: Damals war Walter gerade einmal 65. Die Bemerkung über sein Alter klingt wie ein launiger Scherz, aber dafür sind Gutachter eine viel zu finstere, humorlose Spezies. Ich denke vielmehr, der Autor suchte nach einer treffenden Beschreibung für einen Wissenschaftler an der Spitze seiner Zunft, einen, der über lange Zeit hinweg immer wieder einzigartige, bahnbrechende Beiträge auf seinem Forschungsgebiet geleistet hat. Im Schach werden solche Persönlichkeiten "Großmeister" genannt – in der Wissenschaft fehlt ein solcher Titel bislang. So jemand ist dann vielleicht eine "Koryphäe", ein "Guru" oder schlicht "der alte Knabe". Und mit einer großen Portion Glück: "Nobelpreisträger".

Man kann sich Wnt kaum ohne Walter vorstellen, oder Walter ohne Wnt, und es ist kaum vorstellbar, dass aus diesem Birchmeier-Genom etwas anderes hätte entstehen können als ein Wissenschaftler. Doch Phänotypen brauchen manchmal ihre Zeit zur Ausprägung. Walter machte zunächst einen Abschluss in Kirchenmusik und finanzierte dann sein späteres Studium mit Lehrtätigkeit für eine quirlige 49-köpfige Klasse 11- bis 14-Jähriger an einer Schweizer Grundschule. Das können nicht viele Direktoren großer Einrichtungen in ihren Lebenslauf schreiben. Obwohl es nicht schaden könnte – man lernt da so manches Nützliche.

Auch Wissenschaftler sind ein eigensinniges Völkchen und es braucht manchmal eine lenkende Hand, um sie zusammenzuhalten. Und ebenso wie das Orgelspiel zwei Hände und zwei Füße braucht, ist es auch bei der gleichzeitigen Beschäftigung mit Wissenschaftlern, Ärzten, Landes- und Bundesregierungen und der sich ständig wandelnden Welt des Gesundheitswesens sicher kein Fehler, wenn man vier Sachen gleichzeitig machen kann.

Ein ungewöhnlicher Weg ans MDC

Walter wollte, dass es in dieser Würdigung um Wissenschaft geht, und das soll dann auch so sein – aber dennoch zunächst etwas Hintergrund. Die Spur seiner Veröffentlichungen aus den 1970er- und 80er-Jahren führt von Zürich in die USA, und von dort weiter nach Tübingen und Essen – da hat jemand seinen Inter-Rail-Pass durch die Welt der Wissenschaft gut genutzt. Dann kam ein Ruf aus Berlin-Buch, wo auf dem Gelände der früheren Akademie der Wissenschaften der DDR ein neues Institut Gestalt annahm. Walter wurden ein Labor und die Position eines Koordinators, dann die des stellvertretenden Direktors angeboten; das war für ihn Anlass, endlich Wurzeln zu schlagen.

"Schon gleich wurde er als Wissenschaftler mit höchsten Ansprüchen an sich selbst wie an seine Kolleginnen und Kollegen anerkannt", erinnert sich der Gründungsdirektor des MDC, Detlev Ganten. "Er entwickelte ein hervorragendes Verhältnis zu dem ganzen schon vorhandenen Personal – von der Leitungsebene bis zu den technischen Mitarbeitern. Wahrscheinlich half ihm dabei auch sein Schweizer Pass; bei dem nicht immer einfachen Selbstfindungsprozess zwischen Ost und West konnte er sich etwas zurückhalten. Wir hatten ungeheuren gegenseitigen Respekt und ergänzten einander hervorragend."

Im Jahr 2004 wurde Detlev Ganten die Leitung der Charité angetragen, und Walter Birchmeier wurde Wissenschaftlicher Direktor des MDC. Es gab viel zu tun: das BIMSB sollte in Schwung kommen, und die Partnerschaft zwischen MDC und Charité musste auf eine neue Grundlage gestellt werden. Die Institute begannen mit der Planung des gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center, woran Walter mit seinen Kollegen direkt beteiligt war. Das Projekt erwies sich als perfekter Vorlauf für das derzeitige neue Großprojekt: das Berliner Institut für Gesundheitsforschung oder Berlin Institute of Health (BIH), jetzt Aufgabe von Walter Rosenthal, der seit 2009 Wissenschaftlicher Direktor des MDC ist.

Walter Birchmeier legte mit seinem enormen Nachdruck auf die Qualität der Forschung am MDC den Grundstein für all die guten Entwicklungen seither. Das war der Schlüssel zur erfolgreichen Anwerbung exzellenter neuer Arbeitsgruppenleiter, Postdocs und Doktoranden sowie zur Sicherung der finanziellen Förderung. Wie verschiedene Untersuchungen gezeigt haben, besteht die beste Strategie zur Weiterentwicklung von Entdeckungen der Forschung zu biomedizinischen Anwendungen darin, dass man stark in die Grundlagenforschung investiert. Seine hohen Standards erwartete er auch von seiner eigenen Arbeitsgruppe. Fast täglich ließ er sich zumindest kurz in seinem Labor blicken – zur Freude seiner Wissenschaftler und dem gelegentlichen Unverständnis seines Verwaltungsstabs.

Von seiner Leitung hat das Institut in vielerlei Hinsicht profitiert. Bei externen Begutachtungen haben die MDC-Arbeitsgruppen immer besser abgeschnitten. Und auch das internationale Renommé des Instituts hat enorm zugelegt. In einer weltweiten Untersuchung von Thomson Reuters im Jahr 2010 erreichte das MDC in den Bereichen Molekularbiologie und Genetik Platz 14 und war damit das einzige deutsche Institut unter den ersten 20. Das war eine großartige Leistung in jeder Beziehung – besonders für eine noch nicht einmal 20 Jahre alte Einrichtung. Daran waren Walters Labor ebenso wie viele andere der in seiner Tätigkeit eingerichteten Gruppen beteiligt. Doch leidenschaftliche Wissenschaftler ruhen sich nicht auf ihren Lorbeeren aus. In der gleichen Minute, in der Walter Birchmeier den Staffelstab der Institutsleitung an seinen Nachfolger übergeben hatte (vielleicht auch schon fünf Minuten früher), war er schon wieder in seinem Labor.

"Rente?", meint er entgeistert. "Wie könnte ich in Rente gehen? Klaus Rajewsky publiziert doch auch immer noch Spitzenpapers. Und er ist fünf Jahre älter als ich!" (Sorry, Klaus... Liebe Leser, fangen Sie jetzt nicht an zu rechnen.)

Einem molekularen Signalweg auf der Spur

Der Versuch, Walter Birchmeiers Arbeit in einem kurzen Text zusammenzufassen, ist ebenso zum Scheitern verurteilt wie der Plan, seine Schweizer Heimat an einem einzigen Tag mit dem Reisebus zu besichtigen. Aber die höchsten Gipfel sollte man sich schon ansehen. PubMed führt ihn als Autor von 195 Fachpublikationen. 33 Artikel sind Reviews, mit Informationen direkt aus erster Hand. Hier einige Impressionen aus seinem Werk, denen man immer wieder begegnet wie dem Thema einer Fuge Bachs.

Walter hat sich schon immer für die Faktoren interessiert, die am Aufbau von Geweben und Organen aus einzelnen Zellen beteiligt sind und die Zellen in ihrer Position halten. Während der Embryonalentwicklung – und bei der Entstehung von Krebs – machen sich Zellen manchmal von diesen Bindungen frei und beginnen zu migrieren, sie gehen auf Wanderschaft. Diese Verhaltensänderung wird bewirkt durch komplexe biochemische Signale, die auch die Spezialisierung von Zellen beeinflussen. In verschiedenen Geweben werden diese Vorgänge auf unterschiedliche Weise durch gerade einmal eine Handvoll elementarer Signalübertragungswege beeinflusst. Einer davon ist der Wnt-Signalweg. Aktivität und Auswirkungen der einzelnen Elemente dieser Signalketten ändern sich bei Krebs und anderen Erkrankungen. Zu verstehen, was genau hier passiert, kann erklären helfen, wie diese Erkrankungen in ihrem molekularen Ursprung entstehen, und manchmal sogar mögliche Angriffspunkte für eine Therapie aufzeigen. Die Arbeit von Walter Birchmeiers Gruppe hat zur Identifizierung der Moleküle dieses komplexen Mechanismus der Signalübertragung beigetragen, wie sie miteinander wechselwirken, welche Gene sie aktivieren, und damit letzlich ihrer biologischen Effekte.

Schon über ein Jahrzehnt bevor Walter ans MDC kam, hatte er sich für das Verhalten von Fibroblasten interessiert. Dieser Zelltyp zeigt ebenfalls Migrationsverhalten, zum Beispiel bei der Wundheilung, doch eine Hauptfunktion ist die Erzeugung von Faktoren, die Zellen in größere Strukturen und Gewebe einbinden. Sie enthalten "Stressfasern", die sich ausdehnen und zusammenziehen und dabei das Bewegungsverhalten der Zelle ebenso wie ihre strukturelle Funktion unterstützen. Bis 1980 war die Bedeutung dieser Fasern unbekannt. In diesem Jahr setzte Walters Gruppe an der ETH Zürich Fluoreszenzfarbstoff-markierte Proteine ein um zu zeigen, dass die Fasern aus Aktinfilamenten bestehen und sich durch ein Zusammenspiel von Aktin und einem "Motor"-Protein namens Myosin kontrahieren. Diese Arbeit wurde in Cellveröffentlicht.

Drei Jahre später nahm Cell einen weiteren Artikel der Gruppe an, die inzwischen an das Friedrich-Miescher-Labor des Max-Planck-Instituts für Entwicklungsbiologie nach Tübingen gezogen war. Diesmal ging es um Zell-Zell-Adhäsion, also das Zusammenhängen von Zellen in einem Gewebeverband. Die Gruppe zeigte, dass ein bestimmter monoklonaler Antikörper, der das Protein E-Cadherin (damals noch als Uvomorulin bezeichnet) auf der Oberfläche von Epithelzellen erkennt und bindet, dort sogenannte Adherens Junctions lockern und lösen kann, also Strukturen, die die einzelnen Zellen miteinander verbinden. Mit dieser Arbeit wurde eine neue Methode zur Identifizierung von Proteinen in Zell-Zell-Verbindungen etabliert.

1989 zeigte die Gruppe im Journal of Cell Biology, dass Epithelzellen, wenn Uvomorulin alias E-Cadherin durch den Antikörper gehemmt wird, den Gewebeverband verlassen und zu migrieren beginnen. Das führt zur Invasion fremder Gewebe, darunter auch, zumindest in den Experimenten, Herzgewebe. Im gleichen Artikel zeigten sie, dass Epithelzellen ebenfalls migratorisch werden, wenn sie von Sarkom-Viren infiziert sind. Im Verlauf der Infektion stoppten die Zellen die Produktion von E-Cadherin an ihrer Oberfläche. Der Verlust der Adhäsionseigenschaften schien also offenbar ein Schlüsselschritt auf dem Weg zur Entwicklung von invasiven Krebsformen zu sein.

1991 zeigten Walter und seine Kollegen, inzwischen am Institut für Zellbiologie des Universitätsklinikum Essen, dass ein Protein namens Scatter factor, das stark die Zellmobilität fördert und von Fibroblastenzellen sezerniert wird, ebenfalls invasives Verhalten bei Epithelzellen verursacht – wie es sich herausstellte, handelte es sich um das gleiche Molekül, das auch unter dem Namen Hepatocyte Growth Factor (HGF) bekannt war. Das Gen für das Protein liegt auf dem Chromosom 7, in einem Bereich mit anderen Genen, die an Zellteilung, Entwicklung und Krebsentstehung beteiligt sind. Die Entdeckung wies auf komplizierte Zusammenhänge zwischen Mechanismen in gesunden Organismen hin und Störungen, die zu einer Reihe schwerer Erkrankungen führen. Also genau die Art von Themen, die perfekt an das neue MDC passten.

1996 war Walters Gruppe am MDC etabliert und tief eingearbeitet in die von Wnt und HGF aktivierten Signalwege. Solche Signale aktivieren Proteine in Zielzellen und verändern oft die Aktivität von Genen und damit Zellstruktur und -verhalten. In jenem Jahr veröffentlichte Nature einen bahnbrechenden Artikel der Gruppe über Wnt. Dieses Signalmolekül aktiviert normalerweise einen Signalübertragungsweg, der bei dem Protein Beta-Catenin endet, das in einem Proteinkomplex außerhalb des Zellkerns gebunden ist, bis das Signal eintrifft. Daraufhin wird Beta-Catenin freigesetzt, wandert in den Zellkern, interagiert mit Transkriptionsfaktoren der Lef/TCF-Familie und aktiviert so Gene. Normalerweise kontrollieren Zellen das Molekül, indem sie das Signal blockieren, bevor es eintrifft, oder indem sie das Beta-Catenin abbauen, bevor es sein Ziel erreicht. Doch Tumorzellen enthalten oft eine Beta-Catenin-Form, die "zu aktiv" ist, die aufgrund von Mutationen nicht abgebaut werden kann und sich im Zellkern und anderen Zellregionen ansammelt. Die Gruppe entdeckte außerdem ein neues Protein, das sie Conductin/Axin2 nannten. Es empfängt Signale von einem Molekül namens APC und bindet dann an Beta-Catenin, wodurch es dieses für den Abbau markiert. Ohne diese Interaktion wird Beta-Catenin nicht zerstört.

HGF aktiviert einen Rezeptor mit der Bezeichnung Met, der in der Plasmamembran sitzt, aber niemand wusste, was dann geschieht. In einer zweiten Nature-Veröffentlichung im Jahr 1996 beschrieb die Gruppe nun, dass Met an eine bestimmte Region des Gab1-Proteins bindet. Dieses Protein sammelt sich an Stellen an, die verantwortlich für die Zelladhäsion sind. Eine Aktivierung von Gab1 durch Met oder durch andere experimentelle Methoden bewirkte eine Trennung der Zellen, die dadurch mobil wurden. Im Verlauf dieses Vorgangs begannen sie mit der Ausbildung von röhrenförmigen Strukturen ähnlich wie bei der Bildung von Epithelgeweben in Embryonen. Diese Arbeit bewies, dass Gab1 entwicklungsbiologisch relevante Informationen von Met erhält und ein Programm der epithelialen Spezialisierung auslöst.

2001 konnte die Gruppe Mäuse mit konditionellen Mutationen präsentieren. Dabei kam eine neue gentechnische Methode zum Einsatz, die von Klaus Rajewsky und Kollegen an der Universität Köln entwickelt worden war. Sie erlaubt, gezielt die Bildung von Molekülen wie Beta-Catenin in bestimmten Zellen und zu bestimmten Zeiten nach Wunsch auszuschalten. Wie viele Signalmoleküle hat auch Beta-Catenin an vielen Stellen im Organismus unterschiedliche, wichtige Funktionen. Durch die konditionelle Mutagenese war es nun möglich, seine Wirkung in ganz spezifischen Kontexten zu untersuchen. Walters Gruppe schaltete Beta-Catenin in der Haut und in Haarfollikeln während der Bildung dieser Gewebe im Embryo aus. In einem Cell-Artikel zeigten sie, das sich die Zellen dann nicht mehr in die für die Ausbildung von Haarfollikeln erforderlichen Strukturen ausdifferenzierten. Ohne Beta-Catenin empfingen die Zellen nicht mehr die nötigen Entwicklungssignale, und anstatt zu Haarfollikeln entwickelten sie sich zu Hautzellen.

In einem PNAS-Artikel von 2007 stellte Birchmeiers Arbeitsgruppe weitere Funktionen des Wnt/Beta-Catenin-Signalweges vor – diesmal bei der Bildung bestimmter Herzregionen. Dieses Organ entwickelt sich zunächst als röhrenförmige Struktur und wird dann in einer Reihe weiterer Schritte asymmetrisch, wobei die linke Seite stärker wächst. Die Gruppe fand, dass die Ausbildung dieser Asymmetrie abhängig ist von der Signalübermittlung durch Wnt und Beta-Catenin in bestimmten Regionen des entstehenden Organs. In anderen Herzregionen ist dagegen offenbar ein weiterer Signalübertragungsmechanismus aktiv, dieser ausgelöst durch das Protein Bmp. Damit ein korrekt geformtes Herz entsteht, müssen unterschiedliche Signale zu genau festgelegten Zeiten an ganz bestimmten Orten in einer hoch koordinierten Weise erzeugt werden. Im Journal of Cell Biology zeigte die Gruppe schließlich im gleichen Jahr, dass der HGF-Rezeptor Met auch für die Heilung von Hautverletzungen unverzichtbar ist.

Walters Gruppe untersucht auch weiterhin das Zusammenspiel dieser Signalwege in anderen Geweben und Zusammenhängen, darunter auch Defekte der Signalübertragung, die die Entwicklung von Tumoren begünstigen. Krebs kann entstehen, wenn Stammzellen sich nicht in der vorgesehenen Weise differenzieren, sondern ihre Entwicklung in eine neue Bahn gelenkt wird. Die aggressivsten Tumorzellen ähneln in bestimmten Eigenschaften Stammzellen und nutzen Signalübertragungswege, um selbst zu überleben, sich schnell zu reproduzieren und in ungewöhnlicher Weise zu entwickeln. In ihrer neuesten Veröffentlichung im EMBO-Journal zeigten Walter und Kollegen dieses Jahr, dass Tumorzellen aus Speicheldrüsengewebe eine starke Aktivität des Wnt- und Beta-Catenin-Signalwegs, aber eine geschwächte Bmp-Aktivität aufweisen. Die Wnt-Signale aktivieren das Molekül MLL. Dieses Protein verändert die Struktur der DNA im Zellkern und aktiviert eine Reihe von Genen, die mit Krebsentstehung in Verbindung stehen.

Eine Herzens-Angelegenheit

Diese Artikel – und noch fast 200 weitere – sind Meilensteine einer Karriere, die es sich auch noch mit etwas mehr Abstand zu betrachten lohnt, weil sie dann noch plastischer wird. Walters Werk ist das Ergebnis einer sehr frühen Entscheidung: sich auf einen zentralen biologischen Mechanismus zu konzentrieren und dessen Spur zu folgen, wo immer sie hinführt, zu verschiedenen Geweben, zu unterschiedlichen Krankheitsbildern. Erst dadurch konnte die wahre biologische Bedeutung eines Phänomens wie das des Wnt-Signalübertragungswegs deutlich werden und uns erkennen lassen, wie ein Prozess, der vor Urzeiten in frühen Zellen entstanden ist, verschiedene unterschiedliche Wege genommen hat, um schließlich die Entwicklung verschiedenster Organe und Prozesse in komplexen Organismen zu steuern. In seinem Labor wird dieses System auch weiterhin in unterschiedlichen Zusammenhängen untersucht; bleiben wir also weiter gespannt auf neue Entdeckungen zur Funktion von Wnt und Met bei der Signalübertragung in Gewebeentwicklung und Krankheitsgeschehen.

In der Rückschau erscheint seine Karriere geradlinig und logisch, doch unterwegs hat sich auch manche interessante Abzweigung eröffnet. Walter hat nie kleine Umwege gescheut um zu sehen, wohin sie führen. Er räumt ein, dass einige dieser Abstecher nicht allzuviel gebracht haben, doch 2004 hatte ein solcher Umweg sogar unmittelbare Auswirkungen auf die klinische Medizin, rettet seitdem Menschenleben und wurde zu einem großartigen Beispiel für die Herangehensweise des MDC an Fragen der molekularen Medizin. Die Geschichte erschien 2004 in Nature Genetics und hatte auch große Resonanz in der allgemeinen Presse.

Walters tiefes Interesse an der Zelladhäsion führte die Gruppe zum Ausschalten von Molekülen, die beim Verbinden von benachbarten Zellen helfen. Sie produzierten einen Mäusestamm, dem ein solches Molekül fehlt, Plakophilin-2, ein Verwandter von Beta-Catenin, und machten eine überraschende Entdeckung: Die Tiere starben in der Embryonalentwicklung an Herzschäden. Ludwig Thierfelder, ein Kliniker und Grundlagenforscher zum Thema Herz, hatte sein Labor gleich nebenan. Walter besuchte ihn und stellte eine einfache Frage: Gibt es Patienten mit Herzschädigungen und Mutationen im Plakophilin-2-Gen?

Wie sich herausstellte, gab es die: Etwa 30 Prozent der Patienten mit erblichen Formen der Erkrankung ARVC (arrhythmogenic right cardiac ventricular cardiomyopathies) hatten solche Mutationen. Die Betroffenen leiden unter Herzrhythmusstörungen und haben ein hohes Risiko, plötzlich zu versterben. Es gibt zwar eine Lösung – einen Herz-Defibrillator einzusetzen – doch bis 2004 war es schwierig, die Erkrankung überhaupt zu diagnostizieren. Die Entdeckung der Arbeitsgruppen Birchmeier und Thierfelder ermöglichte es, betroffene Familienmitglieder auf die Mutationen zu untersuchen. Denjenigen mit Mutationen im Plakophilin-2-Gen setzt man nun einen Schockgeber ein, und dadurch konnten bis heute schon viele Leben gerettet werden.

Vom Ansprechen eines Gurus

Ein Paper habe ich bis jetzt nicht erwähnt – gut, vielleicht ist es ja auch nur eine dieser "Großstadtlegenden", wie sie auch in der Naturwissenschaft gelegentlich umhergeistern –, sein Artikel über das Migrationsverhalten einer Mikrobenkolonie in einer vermoderten Orgelpfeife (B) in einer Schweizer Kirche. Fragen Sie Walter einfach danach, wenn Sie ihn nächstes Mal im Labor sehen oder wenn er gerade mit seinem Fahrrad über den Campus radelt. Denken Sie auch daran, ihn nach dem letzten Konzert zu fragen, das er besucht hat, oder nach dem Buch, das er gerade liest. Sie werden immer eine interessante Antwort hören. Und dann stellen Sie sich einen Moment lang vor, was das MDC – und die Wissenschaft – wären, wenn er in seinem Organistenstübchen geblieben oder in einem Grundschulklassenzimmer gestrandet wäre.

Wenn Sie sich nicht ganz sicher sind, wie Sie ihn ansprechen sollen, hier ein paar Vorschläge: "Großmeister" oder "Guru", oder vielleicht "Herrscher von Wnt". Wenn Sie eine literarische Referenz bevorzugen, wäre Oh Captain, my Captain! sicher nicht verkehrt. Vielleicht lassen wir ihn auch noch zum Ritter schlagen, dann wäre er "Sir Walter". Bis dahin reicht einfach "Walter".

- Russ Hodge

(Dank an Daniel Besser für seine umfangreiche Hilfe)

Übersetzung: Dietmar Zimmer