Um die Ecke denken – nicht nur auf Hydra
MDC: Gary Lewin, Sie gehen jedes Jahr in Klausur mit Ihrem Team. Doch dieses Mal war alles anders: Zu dem wissenschaftlichen Symposium auf der Insel Hydra kamen mehr als 50 Personen, darunter mehrere „Keynote Speaker“ – führende Expert*innen auf dem Gebiet der somatosensorischen Wahrnehmung – Kolleg*innen und Doktorand*innen.
Professor Gary Lewin: Das 25-jährige Jubiläum meiner Gruppe wollte ich mit einer besonderen Veranstaltung feiern. Normalerweise treffen wir uns für „Lab retreats“ nicht außerhalb Deutschlands. Bisher sind wir immer nach Bad Schandau oder an die Ostsee gefahren und haben ein oder zwei externe Referent*innen eingeladen. Dann erhielt ich 2019 für meine Leistungen der vergangenen 20 Jahre den Ernst Jung-Preis für Medizin. Ich wollte der Gruppe etwas zurückgeben und so habe ich, wie es sich gehört, das Preisgeld für eine kleine Party ausgegeben.
- Symposium „Sensational Biology“ auf der griechischen Insel Hydra
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Als somatische Wahrnehmung versteht man alle Empfindungen des Körpers nach einer Stimulation: Berührung, Temperatur, die Bewegung der Gliedmaßen und Schmerz. Das internationale Symposium „Sensational Biology“ brachte führende Forschende auf diesem Gebiet zusammen, um neueste Entwicklungen zu diskutieren. Auch Doktorand*innen und junge Forschende konnten sich mit Expert*innen austauschen.
Symposium “Sensational Biology”
Professor Stefan Lechner: Um einen falschen Eindruck zu vermeiden: Es war keine Party. Es war sehr unterhaltsam, ja, und ich habe es sehr genossen. Aber es war auch eine sehr gute wissenschaftliche Konferenz. Wenn man bedenkt, wer alles dort war…
Lewin: Ja, ich habe mich sehr gefreut, wie viele Leute gekommen sind. Der früheste MDC-Doktorand war Jung-Bum Shin, er verließ uns 2001 und ist jetzt Professor in Virginia – er war dabei. Und natürlich Lorne Mendell, mein Postdoc-Betreuer. Auch mein Doktorvater Stephen McMahon wäre da gewesen, aber er ist leider letztes Jahr gestorben.
MDC: An welche Situationen auf Hydra erinnern Sie sich besonders gerne?
Lewin: Daran dass es wirklich nett und entspannt war. Meine jetzigen Doktorand*innen und Postdocs hatten die Gelegenheit, einige sehr prominente Leute zu treffen: Patrik Ernfors ist ein ziemlich berühmter Neurowissenschaftler in Europa – er sitzt im Nobelpreiskomitee für Physiologie und Medizin. Ihn würde man bei einem normalen Treffen nicht in einer so entspannten Atmosphäre kennenlernen.
Lechner: So etwas hat Gary immer unterstützt. Er nimmt seine Postdocs mit zu Treffen und stellt sie vor. So baut man ein Netzwerk auf, und deshalb war die Atmosphäre auf Hydra fast privat. Er ist nicht der Typ, der zu einem Abendessen im Kreise anderer hoher Tiere geht, sondern er stellt sich zusammen mit seinen Kolleg*innen an die Bar.
Lewin: Ja, das ist wichtig. Sie müssen lernen, Meetings zu nutzen und dort auf Leute zuzugehen. Persönliche Beziehungen in dem Bereich sind eine Art unsichtbarer Klebstoff, der die akademische Welt zusammenhält.
Lechner: Mir haben die Vorträge deiner Doktorand*innen sehr gefallen. Du ermutigst sie, damit über den Tellerrand hinaus zu schauen. Es gab wirklich niemanden, der keine gute Idee vorgestellt hat, oder?
Lewin: Wir haben eine Tradition, die nach Stefans Zeit in meinem Labor begann: Auf den „Lab retreats“ bitte ich meine Doktorand*innen oder Postdocs, einen zehnminütigen Vortrag über ein Thema zu halten, das nichts mit dem zu tun hat, woran sie gerade arbeiten. Sie müssen sich also etwas ganz anderes einfallen lassen, eine neue Idee oder ein Problem, das sie gerne lösen würden, wenn sie die Mittel dazu hätten – das ist eine gute Grundlage, um zu diskutieren.
MDC: Ist das typisch für Ihren ehemaligen Mentor, Herr Lechner?
Lechner: Nun, er fördert die wissenschaftliche Selbstständigkeit seiner Doktorand*innen. Nicht nur mit solchen Vorträgen, sondern im Alltag. Eigentlich bei jedem Gespräch, das man mit ihm auf dem Flur, in seinem Büro oder im Labor führt. Ich glaube, deshalb ist er immer um 15 Uhr gegangen. Weil er genug vom Plaudern hatte. Zuhause in seinem Büro auf dem Dachboden begann dann seine eigentliche Arbeit. Und dann bekommt man um 23 Uhr oder um Mitternacht noch eine E-Mail. Mittlerweile verstehe ich das alles sehr gut. Man ist den ganzen Tag im Labor, versucht, die Leute zu motivieren, sie zu ermutigen, schaut sich die Daten an, bespricht laufende Projekte, Probleme usw. Und nachts, wenn man zuhause etwas Zeit hat, macht man dann die echte Arbeit, die man eigentlich machen sollte.
- Stefan Lechner
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Stefan Lechner war von 2006 bis 2013 Postdoktorand in der AG Lewin. Jetzt ist er Professor für Experimentelle Anästhesiologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und Gruppenleiter an der Universität Heidelberg.
Die AG Lechner Lab an der Uni Heidelberg
Lewin: Was er mit „echter Arbeit“ meint: Studien verfassen, E-Mails beantworten und solche Sachen. Ich persönlich kann nicht im Labor arbeiten, auch wenn ich jetzt ein schönes großes Büro habe. Ich erinnere mich an eine EMBO-Studie, in der die Frage war, was die erfolgreichsten PIs ausmacht. Sie saßen nicht in ihrem Büro und schrieben Anträge. Die erfolgreichsten PIs laufen im Labor umher und plaudern. Ich war berühmt dafür, dass ich meine Nase immer in Stefans Versuche steckte, um zu sehen, was da los ist.
Lechner: Lustig ist, dass ich es genauso mache. Und ich frage mich, ob es Dein Einfluss ist oder ob ich es ohnehin so gemacht hätte?
Lewin: Ich glaube, ich habe es von meinem Doktorvater. Und bei Lorne Mendell war es ganz ähnlich. Ich rebelliere dagegen, ein sehr strukturiertes Umfeld als PI zu haben. Manchmal fragen mich angehende Doktorand*innen: „Wie oft treffen wir uns? Habe ich jeden Tag einen Termin? Oder bekomme ich zwei Stunden pro Woche?“ Ich sage dann: „Nein! Aber meine Türen sind immer offen. Und ich komme bei Euch vorbei.“ Ich kann mir vorstellen, dass viele Leute damit nicht zurechtkommen. Aber im Allgemeinen gab es wohl nur sehr wenige unglückliche Menschen in meinem Labor.
Lechner: Man kann nicht jeden zufrieden stellen. Aber Garys Labor hat viele Leute hervorgebracht, die eine wirklich erfolgreiche Karriere in der Wissenschaft machen: Menschen, die in der Lage sind, unabhängig zu denken.
Lewin: Etwa 60 Prozent meiner Postdocs sind jetzt Gruppenleiter. Ich habe immer versucht, ihnen ein hohes Maß an Freiheit zu geben, damit sie ihre eigenen Ideen entwickeln können. Für eine akademische Karriere ist das sehr wichtig: Sie müssen zeigen, dass sie sich etwas Neues einfallen lassen können. Das ist der Punkt, an dem man kreativ wird, über den Tellerrand hinaus blickt.
MDC: Haben Sie dafür ein Beispiel?
Lewin: Kurz vor der Pandemie haben zwei meiner Postdocs, Jane Reznick und Alison Barker, ein Meeting unter der Schirmherrschaft von EMBO organisiert. Sie haben den größten Teil dieser Arbeit geleistet und meinen Einfluss genutzt. Ich war nur Mitorganisator, Jane war die Vorsitzende. Es war eine unglaublich wichtige Netzwerkveranstaltung. Beide sind später Gruppenleiter geworden. Leider haben sie es nicht geschafft, nach Hydra zu kommen.
MDC: 1996 sind Sie als Gruppenleiter ans MDC gekommen. Können Sie sich an Ihre Anfänge in Berlin erinnern?
Lewin: Der MDC-Campus war recht politisch. Jeder und jede im Institut wurde erstmal eingeordnet: Kommst du von „drüben“? Bist du ein „Wessi“ oder ein „Ossi“? Als Ausländer hatte ich das Privileg, dass niemand mich als Wessi sah. Ich zählte nicht in dieser Debatte. Und niemand konnte Englisch sprechen, als ich anfing. Ich musste Deutsch lernen, um mit meinen Technischen Assistent*innen zu reden. Aber das MDC war ein guter Ort, um Dinge anzupacken. Es war der „Wilde Osten“ und damals ganz anders als irgendwo sonst auf der Welt. Für die meisten westlichen Wissenschaftler*innen war es ungewöhnlich, hier hinzuziehen. Wer dennoch kam, war schon ein wenig außergewöhnlich. Zum Beispiel einer meiner ersten Postdocs, der jetzt Professor in Triest ist: Ich habe ihn völlig aus dem Bauch heraus eingestellt. Er war arbeitslos in London, war ein Hacker. Aber er wollte unbedingt nach Berlin kommen. Und er hat es geschafft, eine fast kometenhafte, erstklassige Karriere als EMBO-Gruppenleiter hinzulegen. In den frühen 90.er Jahren war es viel einfacher, solche Leute zu gewinnen.
Lechner: Es ist eine seiner großen Stärken, die richtigen Leute auszuwählen. Ich weiß immer noch nicht, wie er das macht. Gary spürt, wer erfolgreich sein wird und wer nicht.
Lewin: Manchmal frage ich mich selbst, warum ich eine bestimmte Person ausgewählt habe. Ich gehe mehr nach Bauchgefühl als nach Lebenslauf. Viele PIs stellen jemanden wegen einer speziellen Methode ein, zum Beispiel für die Analyse von Einzelzellsequenzierungsdaten. Egal wer es ist; sie wollen einfach jemanden, der das kann. Aber ich entscheide mich für niemanden nur wegen einer bestimmten Technik, sondern wegen seiner/ihrer Bereitschaft etwas zu lernen.
MDC: Wie hat sich die Atmosphäre am MDC im Laufe der Zeit verändert?
Lewin: Irgendwann war es eine Erleichterung, dass die Leute nicht mehr ständig über Ost und West sprachen. Der Wandel begann in den frühen 2000-er Jahren. Es ist jetzt völlig anders, aber immer noch sehr gut. Die Leute wollen immer noch nach Berlin kommen, aber ihre Beweggründe sind weniger eigenwillig und offensichtlicher als in den späten 1990-er Jahren.
MDC: Wie hat sich die Corona-Pandemie auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Lewin: Sie hat Hydra um ein Jahr verzögert, was sehr schade war. Mein Doktorvater hat im vergangenen Jahr noch gelebt; er wäre auf jeden Fall nach Hydra gekommen! Das hat einen großen Unterschied gemacht. Was die Pandemie im Allgemeinen angeht, so hat mein Labor wissenschaftlich gesehen recht gut überlebt. Der Basisbetrieb am MDC hatte nur wenig Einfluss auf unsere Arbeit. Es ist aber wirklich schön, wieder zur Normalität zurückzukehren. Hydra war das erste kleine Meeting, an dem ich seitdem teilgenommen habe.
MDC: Stefan Lechner, wie würden Sie die Zusammenarbeit mit Gary Lewin in drei Worten beschreiben?
Lechner: Ich finde das Wort „unterstützend“ wichtig; sehr kenntnisreich. Und mir fällt immer das Wort „auffällig“ ein, aber auf eine gute Art.
MDC: Warum „auffällig“?
Lewin: Dazu gibt es eine Geschichte und die hat mit der Personalabteilung des MDC zu tun, mit einem externen Berater und mit einem Jahresgespräch. Wir als Gruppenleiter und Gruppenleiterinnen sollten bestimmte Checklisten für diese Jahresgespräche ausfüllen und ich habe mich geweigert. So wurde ich wegen meiner, sagen wir mal, rebellischen Art, als „auffällig“ bezeichnet.
Die Fragen stellte Christina Anders.