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Das Schöne an Romanen ist, dass die guten uns Einblicke in die Psychologie menschlicher Beziehungen gewähren können. Sally Rooney ist eine junge irische Autorin, die mit beeindruckender Präzision Beziehungen von innen heraus beschreiben kann. Mit ihrem „Stream-of-Consciousness“-Stil zeichnet sie ein detailliertes Bild davon, wie und was ihre Figuren fühlen und denken. Eine Weile lang lebt man quasi ihr Leben. Rooney wurde berühmt, als ihr zweites Buch – „Normal People“ – vor ein paar Jahren in einer hervorragenden (und sehr erfolgreichen) BBC-Serie über die leidenschaftliche, aber schwierige Beziehung zwischen zwei jungen Menschen in der Schul- und Universitätszeit verfilmt wurde. Nun hat Sally Rooney ihr viertes Buch veröffentlicht: „Intermezzo“. Es ist im gleichen Stil wie ihre bisherigen Bücher geschrieben – fesselnd, bewegend, tiefgründig und humorvoll.
Der Vater von zwei Brüdern ist gerade gestorben. Sie trauern. Ihre Trauer wird vor dem Hintergrund einer komplexen Familiengeschichte geschildert. Beide Brüder haben Schwierigkeiten, mit den Gefühlen umzugehen, die dieser Tod auslöst. Ivan, der jüngere Bruder, ist ein sozial unbeholfener und introvertierter Schachspieler (Der Titel Intermezzo ist ein Schachbegriff) ohne Partner*in oder einen „richtigen“ Job, während Peter ein erfolgreicher und nach außen selbstbewusster Anwalt mit einem großen Freundeskreis und zwei Freundinnen ist. Aus ihren inneren Dialogen erfahren wir, dass die Beziehung zwischen den Brüdern angespannt ist, und manchmal bricht der Konflikt offen aus.
Die Erzählung wechselt zwischen den Brüdern und ihren Partnerinnen hin und her (Ivan lernt zu Beginn des Buches jemanden kennen), und wir tauchen ein in ihren Schmerz und ihre Freude, ihre Erfolge und ihr Scheitern. Rooney versteht es, sich auf die Seite der gesellschaftlich Ausgegrenzten zu stellen (einfühlsam dargestellt mit Marianne und Connel in „Normal People“), und ihre Beschreibung von Ivans emotionaler Reise ist lebendig, aufschlussreich und verblüffend ehrlich. Besonders arbeitet Rooney Ivans authentisches Auftreten heraus und kontrastiert sie mit der aalglatten Persönlichkeit seines Bruders Peter. Peter wirkt zwar nach außen hin erfolgreich. Er ist jedoch innerlich verwirrt, unglücklich und letztlich verzweifelt und kämpft damit, seine eigenen Gefühle zu erkennen und sie anderen zu zeigen. Mehr sei hier nicht verraten, es würde die Geschichte verderben – lassen Sie mich nur sagen, dass es eine absolut glaubwürdige emotionale Achterbahnfahrt ist, voller Herz und Seele, die uns vor Augen führt, was uns als Menschen ausmacht. Die große Botschaft für mich ist, dass das Lesen solcher Bücher uns empathischer macht – jeder Mensch ist anders, einzigartig, komplex und führt ein Innenleben, das oft nicht mit unserer Wahrnehmung von ihnen übereinstimmt.
Sally Rooney: Intermezzo, Claassen Verlag, 2024
Weitere Bücher der Autorin: Gespräche mit Freunden; Normale Menschen; Schöne Welt, wo bist du