Wenn neue Adern sprießen
Als Holger Gerhardt an einem Tag vor 20 Jahren in seinem Labor an der schwedischen Universität Göteburg saß, rechnete er nicht damit, dass er gleich eine fundamentale Entdeckung machen würde. Er war 30 Jahre alt, Postdoktorand am Institut für Medizinische Biochemie und wollte eigentlich nur einer Studentin helfen, die gerade ein Präparat angefärbt hatte. Er blickte durch das Mikroskop auf die Netzhautzellen einer Maus und stockte. Denn er sah etwas, das bisher niemandem aufgefallen war: lange fadenförmige Auswüchse, die sich an der Spitze winziger Kapillaren entwickelten.
Eigentlich hatte er sich ein ganz anderes Forschungsprojekt vorgenommen, doch hier, so war ihm gleich klar, musste er unbedingt genauer hinschauen. Das hat sich gelohnt, denn an diesem Tag war er auf die Aussprossung der Blutgefäße gestoßen, dessen grundlegende Prinzipien er in der Folge untersuchte. Im Jahr 2011 bekam er dafür den Judah Folkman Award der North American Vascular Biology Organization.
„Diese Aha-Momente sind eigentlich das Beste an der Wissenschaft“, sagt Holger Gerhardt, der heute ein internationaler Spezialist für Angiogenese, die Bildung von Blutgefäßen, ist. Er sitzt an einem kleinen Tisch in seinem Büro am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) auf dem Campus in Berlin-Buch. Vor zehn Minuten hat er sein Fahrrad mit Leichtigkeit die Treppe hoch in die erste Etage getragen. Jetzt lehnt es an der Wand neben seinem Schreibtisch.
Ein Labyrinth von Röhren
Auf dem Fahrrad legt er jede Woche viele Kilometer durch Berlin zurück, denn in der Hauptstadt ist er an verschieden Standorten tätig. Neben der Forschungsgruppe, die er am MDC leitet, ist er auch Professor für Experimentelle Herz-Kreislaufforschung am Berlin Institut of Health (BIH) und er ist in das Deutsche Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK) eingebunden. Er arbeitet damit nicht nur mit Grundlagenforscher*innen, sondern auch mit Kliniker*innen eng zusammen. „Es gibt kaum eine Erkrankung in unserer Gesellschaft, bei der Blutgefäße keine primäre oder sekundäre Rolle spielen“, sagt Holger Gerhardt. Das gilt für Herz-Kreislauf-Krankheiten, aber auch für Krebs, Diabetes oder Demenz.
Die Blutgefäße bilden ein komplexes Netzwerk von Arterien, Venen und Kapillaren, die den Körper mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgen. Ein Labyrinth von Röhren, die dick wie ein Daumen oder feiner als ein Haar sein können. Holger Gerhardt fand heraus: Wenn aus der Wand vorhandener Blutbahnen neue Zellen in die Umgebung sprießen, übernehmen diese Endothelzellen verschiedene Aufgaben. Leitzellen („tip cells“) weisen nachfolgenden Zellen („stalk cells“) die Richtung. Beide wandern hin und her, tauschen Plätze und Rollen, verhalten sich wie in einer Art Wettbewerb. „Sie zeigen fast eine Art soziales Verhalten“, sagt Holger Gerhardt. Jede will anscheinend die Führungsposition übernehmen.
So bauen sich Stück für Stück neue feine Kapillaren auf, die sich mit dem vorhandenen großen Netz verbinden. Gerhardt und sein Team wollen wissen, wie Form und Größe dieses schlauchartigen Systems reguliert werden. Wie entscheiden die Zellen, ob sie neue Seitenäste bilden oder den Durchmesser der Blutgefäße vergrößern? Wie kommt es zu Fehlbildungen? Wie lassen sie sich reparieren?
Eine unbeabsichtigte Explosion
Fragen zu stellen, hat Holger Gerhardt immer Spaß gemacht. „Ich war schon als Kind unglaublich neugierig“, sagt der Wissenschaftler. Die Begeisterung für Naturwissenschaften hat bei ihm zunächst vor allem der Großvater geweckt. Ein leidenschaftlicher Hobbywissenschaftler, der seine Teleskope selbst zusammenbastelte und zu jeder Sonnenfinsternis auch in ferne Länder reiste. Bei Wanderungen durch den nördlichen Schwarzwald, wo er die ersten Jahre aufwuchs, kannte der Opa die Namen jeder Pflanze. Als Junge richtete sich Holger Gerhardt ein Chemielabor in der Toilette ein, wo es einmal zu einer unbeabsichtigten Schwarzpulver-Explosion kam.
Ich war schon als Kind unglaublich neugierig.
Nach dem Abitur in Stuttgart arbeitet er eine Zeitlang im Labor eines Pharmaunternehmens, das aus Rinderknochen in Hochbrennöfen Knochenkeramiken herstellen wollte. Als der Abteilungsleiter einmal vier Wochen abwesend war, zeichnete er die Versuchsanlage und baute sie gemeinsam mit der Werkstatt für die Patentanmeldung auf. „Ich war 18 Jahre alt, trug einen Kittel und hatte ein eigenes Büro“, sagt Holger Gerhardt und lacht. Man hätte ihn gerne dort behalten, aber er wollte an die Universität.
In Darmstadt und Tübingen studierte er Biologie, ein Vortrag seines späteren Doktorvaters über Gliazellen begeisterte ihn zunächst für die Neurobiologie, er promovierte über die Blut-Hirn-Schranke. Während seiner vier Jahre als Postdoktorand an der Universität Göteburg wurden auch seine zwei Töchter geboren. Anschließend verbrachte er zehn Jahre am London Research Institute, leitete dort eine Forschungsgruppe, parallel auch ein Labor am Vesalius Research Center an der Katholischen Universität Leuven in Belgien.
Krebs lässt sich nicht aushungern
Nach Berlin ist er 2014 gerne gekommen, um gemeinsam mit Klinikern zum Beispiel an Therapiekonzepten gegen Herz-Kreislauf-Krankheiten zu arbeiten. So ließe sich womöglich eines Tages die vorzeitige Rückbildung von Gefäßen verhindern, die auch bei Demenz eine Rolle spielt und häufig im Zusammenhang mit Bluthochdruck auftritt. „Viele Menschen nehmen heute Medikamente, um den Bluthochdruck zu senken“, sagt Holger Gerhardt. „Wir fragen: Wie können wir die Gefäße schützen?“ Zum Beispiel, indem man ihre Widerstandsfähigkeit stärkt.
Und auch bei Krebs lassen Tumore Gefäße sprießen, um zu wachsen. In den 1970er-Jahren wurde der US-amerikanische Zellbiologe Judah Folkman für seine Idee berühmt, die Bildung neuer Blutgefäße im Tumor mit Medikamenten zu hemmen. Wenn man dem Tumor Nährstoffe und Sauerstoff nimmt, so die Hoffnung, werde er ausgehungert. Ein Ansatz, der sich nicht bewährt hat. „Wie eine Pflanze im Garten, die nicht gegossen wird, begannen Tumore zu streuen“, sagt Holger Gerhardt. Das Gegenteil von dem, was man erreichen wollte. Dazu kommt: „Wenn man die Gefäße im Tumor absterben lässt, ist es schwerer mit toxischen Stoffen hineinzukommen.“
So denke man heute umgekehrt gerade darüber nach, die ohnehin schlechten Gefäße im Tumor zu verbessern, damit Medikamente nachhaltiger mitten hinein gelangen. „Alle Therapeutika, die man bisher einsetzt – Chemotherapie, Bestrahlung – funktionieren besser, wenn die Gefäße besser sind“, sagt Holger Gerhardt. Neue, noch nicht publizierte Ergebnisse aus seinem Labor liefern zudem Ansätze, die Immuntherapie gegen Krebs effizienter zu machen.
Offene Diskussionen
In Gerhardts Forschungsgruppe am MDC arbeiten 21 Wissenschaftler*innen und aus Deutschland, USA, Australien, Frankreich, Spanien, Portugal, Serbien, Ecuador, Japan. Als Chef möchte er nicht der große Professor sein, vor dessen Reich seine Mitarbeiter*innen ehrfürchtig erstarren. Offenheit und Miteinander sind ihm wichtig. „In Meetings sollen sich meine Leute trauen, konstruktive Kritik zu äußern. Das ist auch eine Qualitätssicherung für die Wissenschaft“, sagt er. In seinem Labor sollten sie eine ideale Umgebung vorfinden, ihre Ideen zu äußern und zu realisieren. „Ich hatte immer sehr viele Freiheiten, meine eigenen Projekte zu verfolgen“, sagt er. Das habe zu seiner Unabhängigkeit beigetragen.
Heute hat Holger Gerhardt kaum noch Zeit für eigene Experimente. „Zu sehen, wie meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorankommen, ist aber genauso lohnend wie eigene Entdeckungen zu machen“, sagt er. Manchmal ist er allerdings auch ein bisschen neidisch. Die tollen Geräte, die sie heute haben, hätte er damals auch gerne benutzt.
Text: Alice Ahlers
Weiterführende Informationen