Der Maschinist der Zellen
Für Oliver Daumke ist die Zelle ein Maschinenraum. Molekulare Maschinen, die aus Eiweißbausteinen bestehen, verrichten hier fortwährend ihre Arbeit. Die Proteinmaschinen transportieren Nährstoffe in die Zelle oder machen unerwünschte Eindringlinge unschädlich. Es ist eine bis ins Feinste abgestimmte Choreografie unzähliger Miniatur-Prozesse.
Professor Daumke schaut in diesen Maschinenraum des Lebens, um die Baupläne der molekularen Maschinen zu verstehen. Er erforscht ihre Struktur und Funktion. Mit Hilfe von Röntgenkristallanalyse und Kryo-Elektronenmikroskopie untersucht der Strukturbiologe, aus welchen Aminosäuren sich ihre Eiweißbausteine zusammensetzen und wie sich die Aminosäureketten im Raum falten, um Proteinmaschinen zu bilden, die kleiner sind als die Wellenlänge des sichtbaren Lichts.
„Wie die Klinge eines Taschenmessers“
Daumke klappt sein Laptop auf und lässt einen Kurzfilm mit einem animierten 3D-Modell ablaufen. Er zeigt den komplexen Miniatur-Prozess einer Proteinmaschine mit dem Kurznamen GBP1. Sie ist ein wichtiger Teil der angeborenen Immunantwort beim Menschen und sorgt dafür, dass Bakterien wie Salmonellen sich nicht unbehelligt in Zellen vermehren können. Sie heftet sich an sie, kapselt sie ein und löst ihre äußere Membran auf. „Wir haben herausgefunden, wie die GBP1-Maschine sich gezielt an der Membran von Bakterien anordnet, um diese zu zerstören“, sagt Daumke. „Ihre Proteinstruktur macht an den Bakterien eine umfassende Veränderung durch und bildet dann eine gleichmäßige Hülle um den Krankheitserreger.“
Auf dem Monitor entspinnt sich die molekulare Choreographie des GBP1, wie sie in Folge einer Infektion in menschlichen Zellen ablaufen würde. Zwei Protein-Bausteine binden an zwei Energieträger-Moleküle, GTP genannt, und verbinden sich an der Stirnseite. Die Motorproteine nutzen die Energie des GTP, um einen molekularen Hebel aufzuklappen. „Wie die Klinge eines Taschenmessers“, bemerkt Daumke. Dann verbinden sie sich mit tausenden weiteren aufgeklappten GBP1-Proteinen wie Speichen zu einem Rad, die sich wiederum mit vielen anderen Rädern zu Röhrchen stapeln. Diese Röhrchen heften sich auf die Membran des Bakteriums – und machen sie durchlässig. Andere, bislang noch unbekannte, Moleküle der Immunabwehr können dann in das Bakterium eindringen und es unschädlich machen.
Daumkes Augen leuchten, als würde er sich das Video zum ersten Mal anschauen. „Die Aufklapp-Bewegung, die das Protein durchführt, ist absolut spektakulär“, sagt er. Es fasziniert ihn, zu verstehen, wie der molekulare Mechanismus dahinter funktioniert. Diese Strukturaufklärung ist zunächst reine Grundlagenforschung. „Wir forschen aber auch an der Schnittstelle zu Krankheitsprozessen. Häufig ergeben sich konkrete Vorschläge, wie man Krankheiten behandeln kann“, sagt Daumke. Das umfassende Verständnis des GBP1-Mechanismus könnte etwa dazu beitragen, die Immunantwort bei Bakterieninfektionen medikamentös zu unterstützen.
Kleinste Änderung, schwerste Krankheiten – und Wege zur Heilung
Am Max Delbrück Center ziehen Kolleg*innen Daumkes Arbeitsgruppe häufig hinzu, wenn fehlgesteuerte Proteinmaschinen für Krankheiten verantwortlich gemacht werden. „Mutationen in unseren Genen können ihre Funktion beeinträchtigen“, sagt Daumke. „Wenn man Pech hat, führt der Austausch einer einzelnen Aminosäure eines Proteins zur schwersten Krankheit.“ Macht zum Beispiel eine Mutation die Proteinmaschine Dynamin überaktiv, kann eine tödliche Muskelkrankheit die Folge sein – die zentronukleäre Myopathie. Dynamin, das normalerweise für lebenserhaltende Prozesse verantwortlich ist, zerstört dann die Muskelstruktur. Durch Struktur-Funktionsanalysen lässt sich herausfinden, welche Aminosäuren genau für solche Fehlfunktionen verantwortlich sind – und wie man sie möglicherweise verhindern kann.
Daumke hat die Proteinmaschinen der Dynamin-Familie zwölf Jahre lang eingehend erforscht. Sie sind unter anderem an der Endozytose beteiligt, ein elementarer Prozess, durch den die Zellen Stoffe aufnehmen können. Partnerproteine lotsen Dynamin dabei an die Stelle der Zellmembran, an der zum Beispiel Eisenmoleküle in einer Membran-Einstülpung aufgenommen werden sollen. Dort bilden 40 bis Dynamin-Maschinen eine ringartige Struktur um den Hals der Einstülpung. „Dynamin funktioniert wie eine Ratsche, die den Hals immer weiter abschnürt, bis die Einstülpung mitsamt der Eisenmoleküle abgetrennt und dann in die Zelle aufgenommen werden kann“, sagt Daumke. Schon 2011 hat er die Struktur erstmals bestimmt, 2021 dann alle Erkenntnisse in einem umfassenden Computermodell zusammengeführt.
In vielen Fällen können strukturelle Erkenntnisse einen direkten therapeutischen Nutzen haben. So wurde in Daumkes Gruppe ein Antikörper gezielt verändert, sodass er einer Kohorte von Patientinnen und Patienten gespritzt werden konnte. Der Antikörper erkennt Zellen des Multiplen Myeloms, einer Form von unheilbarem Krebs, der das Knochenmark befällt. „Der Antikörper ist noch in der klinischen Testung, aber bei einer Patientin hat sich der Krebs vollständig zurückgebildet“, sagt Daumke. Der Antikörper könnte also die Basis für eine neue Therapie sein.
Ein Forscherleben im Dienste der Proteinmaschinen
Wenn man Oliver Daumke fragt, was ihn als Forscherpersönlichkeit auszeichnet, dann antwortet er: Hartnäckigkeit, Detailversessenheit und die Bereitschaft, das eigene Wissen ständig zu hinterfragen. Nur so lässt sich wohl erklären, warum er sich seit dem Studium für die hochkomplexen Mechanismen von Proteinmaschinen begeistert.
Seine erste, eine Transportmaschine, die Peptide durch Membranen befördert, analysierte er bereits für seine Diplomarbeit an der Universität zu Köln. Für die Doktorarbeit am Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie in Dortmund bestimmte er die 3D-Struktur einer anderen Maschine namens Rap1GAP. Er fand einen komplett neuen Mechanismus, mit dem sie einen molekularen Schalter in der Zelle abschalten kann. Und am Laboratory of Molecular Biology (LMB) an der University of Cambridge – einer Wiege der Strukturbiologie – deckte er während seiner Postdoc-Zeit den Mechanismus der Proteinmaschine EHD2 auf. Diese bildet auf Membranen einen Ring aus und stabilisiert so Membranröhrchen in der Zelle.
Ans Max Delbrück Center kam Oliver Daumke 2007 und leitete dort zunächst eine Nachwuchsgruppe. Seit 2013 ist die Arbeitsgruppe mit dem Titel „Strukturbiologie Membran-assoziierter Prozesse“ verstetigt – und er ist Professor an der Freien Universität Berlin. 15 Mitarbeitende zählt sein Team heute.
Die ganze Zelle im Blick
Die Kryo-Elektronenmikroskopie, für die 2017 drei Nobelpreise vergeben wurden, hat die Strukturbiologie in den letzten Jahren beflügelt. Sie erlaubt es, den Aufbau von sehr komplexen Proteinmaschinen und ihre Anordnung im Raum präzise abzubilden. Die Proben werden dafür in flüssigem Stickstoff schockgefroren und allseitig per Elektronenstrahl abgelichtet, so dass eine aussagekräftige 3D-Aufnahme entsteht. Seit 2017 gibt es auch in Daumkes Arbeitsgruppe ein solches Hightech-Gerät.
War der Ansatz der Strukturbiologie bisher, Komplexität zu reduzieren und Proteine isoliert per Röntgenkristallstrukturanalyse zu betrachten, ermöglicht es die neue hochauflösende Strukturbestimmung per Elektronenstrahl, den Blick auf die Umgebung in der Zelle zu weiten. Daumkes Team kombiniert die Methode zudem mit der Lichtmikroskopie, um Proteine zu markieren und in der Zelle zu verorten.
„Viele Proteine stehen in einer Wechselwirkung mit zellulären Partnerproteinen oder zellulären Membranen“, sagt Daumke. „Erst wenn man das alles zusammen betrachtet, kann man die Funktion und die Wirkung zellulärer Maschinen in Gänze verstehen.“ Integrative Strukturbiologie nennt sich dieser Ansatz. Mit diesem Blick auf die ganze Zelle lassen sich auch die Auswirkungen von Mutationen besser verstehen und therapeutisch adressieren.
Computermodelle für Vorhersagen
Der zweite Umbruch, der Daumkes Arbeit derzeit aufmischt, ist die Künstliche Intelligenz. Mit AlphaFold hat Google eine Plattform veröffentlicht, auf der die Struktur von 200 Millionen Proteinen im dreidimensionalen Raum berechnet und der Wissenschaftsgemeinschaft zugänglich gemacht wurde. „Dadurch ist es oft nicht mehr nötig, Strukturen selbst zu bestimmen“, sagt Daumke. Was im Labor mehrere Jahre dauern kann, erledigt AlphaFold in wenigen Minuten. Doch viele Fragen lassen sich weiterhin nur experimentell beantworten: wie Proteine nach ihrer Synthese verändert werden, zum Beispiel, ihr Zusammenspiel oder welche Bewegungen Proteinmaschinen tatsächlich ausführen.
Arbeitslos werden Strukturbiologen ohnehin nicht. Im Gegenteil: Die integrative Strukturbiologie in Kombination mit KI-Methoden ermöglicht es, ganz neue Fragen zu beantworten. Am Horizont steht das Ziel, die Zelle mit all ihren sich bewegenden und ineinandergreifenden Rädchen in einem umfassenden Computermodell zu simulieren, um Vorhersagen zu treffen, die sich experimentell prüfen lassen. „Wie eine ganze Zelle funktioniert, in der tausende Maschinen gleichzeitig arbeiten, und wie das alles koordiniert wird, ist eine große Frage. Die müssen viele Disziplinen zusammen lösen“, sagt Daumke. Er will einen Beitrag dazu leisten, indem er mit neuesten Technologien noch tiefer in den Maschinenraum der Zelle hineinschaut und den Miniatur-Prozessen des Lebens nachspürt. Rädchen für Rädchen.
Text: Mirco Lomoth