📺 Mutig, weitsichtig, inspirierend – Detlev Ganten zum 80.
Am Morgen des 2. September 1991 schien auf dem Bucher Forschungscampus ein Tag wie jeder andere anzubrechen. In den ehemaligen Zentralinstituten der DDR-Wissenschaftsakademie ahnte niemand, dass in Bonn, im Bundesforschungsministerium, gerade ein neuer Chef berufen wurde. Er sollte noch am selben Nachmittag nach Berlin kommen – mit dem Auftrag, aus den drei Akademie-Instituten mit ihren gut zweitausend Beschäftigten etwas völlig Neues zu formen. „Mir war es wichtig, mich umgehend persönlich vorzustellen – aus der Zeitung sollten meine Leute die Neuigkeit nicht erfahren“, wird Detlev Ganten später berichten und sich an die angespannte Stimmung beim ersten Zusammentreffen erinnern: „Ich war der unbekannte Wessi mit Änderungsplänen, natürlich war man da erst einmal skeptisch.“
Ein Mann von Entschlusskraft und Weitsicht
Schon bald jedoch wich die Skepsis und machte Aufbruchsstimmung Platz. Mit den Jahren entstand in Berlin-Buch ein weltweit angesehener biomedizinischer Forschungscampus mit Patientenbezug und Businesspark. Mittendrin: das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC). Dass es so kam und nicht anders, ist das große Verdienst von Detlev Ganten, der Berlin-Buch zu seinem Meisterstück machte. „Er hat Bahnbrechendes geleistet und ist dabei mit großer Weisheit vorgegangen“, urteilt sein früherer Chef, Bundesforschungsminister a.D. Heinz Riesenhuber. Und Thomas Sommer, kommissarischer Wissenschaftlicher Vorstand des MDC und langjähriger Weggefährte, sagt: „Wir haben ihm sehr, sehr viel zu verdanken und freuen uns, dass er immer noch fürs MDC aktiv ist, als freundschaftlicher Ratgeber für viele und Ideengeber im Freundeskreis.“
Beide rühmen Gantens Fähigkeit, auf Menschen zuzugehen und ihnen zuzuhören, seine Unerschrockenheit, Beharrlichkeit, Entschlusskraft und Weitsicht – Eigenschaften, die ihm auch über Buch hinaus noch viele Türen öffnen sollten. Erkennbar waren sie schon in der Schlüsselszene von 1991, als sich in Berlin-Buch ein fünfzigjähriger Pharmakologie-Professor aus Heidelberg als neuer Gründungsdirektor vorstellte. „Damals war ich noch ein junger Mann“, sagte Detlev Ganten kürzlich, verschmitzt lächelnd. Am 28. März 2021 ist er achtzig Jahre alt geworden. Auf dem Campus Buch wurde ihm zu Ehren eine Büste enthüllt.
Detlev Ganten ist ein Kriegskind. Er kam am 28. März 1941 in Lüneburg zur Welt und wuchs mit seinen vier Geschwistern nahe Bremerhaven auf. „Ich habe die Leiden der letzten Kriegsperiode und der Jahre danach erlebt und viel Elend gesehen“, sagt er in einem MDC-Zeitzeugen-Video. Das Elternhaus war sehr konservativ, der Vater Mitglied der NSDAP. Später habe das zu großen Konflikten in der Familie geführt, berichtet Ganten, ihn aber auch besser verstehen lassen, wie Menschen sich in politischen Systemen verstricken können.
Experte für Bluthochdruck
Nach dem Abitur machte der junge Ganten erst einmal eine Ausbildung zum landwirtschaftlichen Gehilfen. „Das Landleben hat mich sehr geprägt, der beständige Umgang mit Tieren“, berichtet er später als einer, der es noch versteht, über den spitzen Stein zu stolpern. Aus seinem Interesse für die Natur und dem Wunsch, etwas Gutes für die Menschheit zu tun, wurde schließlich ein Medizinstudium mit den Stationen Würzburg, Montpellier und Tübingen – und einem Praxissemester im französischen Krankenhaus in Marrakesch. Seine Liebe zur Frankophonie führte Detlev Ganten nach der Promotion ins kanadische Montreal, an die McGill University, wo er von 1969 bis 1973 forschte und zum Abschluss einen Doctor of Philosophy (Ph.D.) machte. Es folgte eine lange Etappe am Pharmakologischen Institut der Universität Heidelberg (1973-1991). Dort erhielt Ganten 1975 eine Professur und vertiefte sich in die Bluthochdruckforschung. Mit seinen vielfach ausgezeichneten Studien zur hormonalen Regulation des Blutdrucks, insbesondere zum Renin-Angiotensin-System, trug er dazu bei, dass der Bluthochdruck heute eine gut behandelbare Krankheit ist.
Dann kam der Ruf nach Berlin. Den entscheidenden Hinweis auf Detlev Ganten habe er aus „dem Bereich des Wissenschaftsrats“ erhalten, berichtet Heinz Riesenhuber. Das mächtige Gremium hatte gleich nach der Wiedervereinigung die ostdeutsche Forschungslandschaft begutachtet und viele Umstrukturierungen und Neubesetzungen eingeleitet. „Die Aufgabe war schwierig“, erinnert sich der langjährige Forschungsminister mit der Fliege: „Wir wollten eine freiheitliche Wissenschaft einführen und die Bereitschaft zur weltoffenen Konkurrenz stärken.“ Einige Male habe man sich getroffen, dann habe er Detlev Ganten gebeten, eine Forschungseinrichtung neuen Typs in Berlin-Buch aufzubauen. Riesenhuber: „Das ist ihm dank großer organisatorischer Kompetenz und wissenschaftlicher Leidenschaft auch gelungen.“
Der Grenzgänger aus dem Westen
Für den Heidelberger Professor war es ein großer Sprung – raus aus der vertrauten, wohlgeordneten Neckarstadt, hinein in die fremde Welt des „wilden Ostens“. Seine Frau, die Ärztin Ursula Ganten, kam mit und gemeinsam bezog das Paar eine karge Zweiraumwohnung im Bucher Gästehaus. Die beiden Söhne waren schon aus dem Haus und blieben in Westdeutschland. „Wir waren die ersten Wessis und kannten niemanden, auch sozial war das damals eine unsichere Situation“, erinnert sich Detlev Ganten im Zeitzeugen-Video. Die Gantens haben dann bald ein Haus gebaut – gleich neben dem Campus, aber schon im Brandenburgischen. Der Arbeitsweg des Gründungsdirektors dauerte fünf Fußminuten und führte über ein schmales Brett und ein Loch im Zaun. „Dieses komplette Eintauchen in die neue Situation war unheimlich wichtig, auch psychologisch“, sagt Ganten. Er hatte sich bewusst gegen eine Di-Mi-Do-Existenz als Westmanager im Osten entschieden und setzte mit seiner Frau alles auf eine Karte.
Eröffnung mit dem Bundespräsidenten
Es war ein starkes Signal, aber auch das Misstrauen war groß. „Ich hatte gehofft, dass mein Freund Heinz Bielka den Posten bekommt, er war damals stellvertretender Direktor des Zentralinstituts für Molekularbiologie und politisch unbescholten“, erinnert sich Erhard Geißler, Genetikprofessor und Bucher Urgestein „Nun aber wurde uns ein Professor aus Heidelberg vor die Nase gesetzt.“ Was tun? Detlev Ganten ging in der ihm eigenen Weise an die Sache heran. In seinem Büro veranstaltete er Tage der offenen Tür, für alle, die etwas auf dem Herzen hatten. „Ich habe praktisch rund um die Uhr Gespräche geführt. Abends gab es Flensburger Bier und Rotwein, und so haben wir uns auch persönlich besser kennengelernt.“
Er habe ja anfangs auch nicht gewusst, wie der Weg aussehen würde und sei auf Hilfe angewiesen gewesen, sagte Ganten kürzlich in einem Interview: „Das habe ich auch offen gesagt, und das setzte enorme Energien frei: Alle wollten zum Erfolg beitragen, auch die von Wissenschaftlern so gern gescholtene Verwaltung.“
Am 1. Januar 1992, nur drei Monate nach Gantens Ankunft auf dem Campus, wurde das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) gegründet. Zur feierlichen Eröffnung kam auch der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Der neue Name des Zentrums erinnert an den Nobelpreisträger und unkonventionellen Pionier der modernen Genetik Delbrück und knüpft an die große, bis in die Kaiserzeit zurückreichende Geschichte des Standorts an. In für ihn typischer Weise setzte Ganten damit auf die einende Kraft gemeinsamer Traditionen. Auf dieser Basis sollte das MDC nun eine wegweisende Forschungseinrichtung werden: mit flachen Hierarchien und jungen, unabhängigen Arbeitsgruppen.
Ost-West-Konkurrenz und jede Menge Freiheiten
Der erste Nachwuchsgruppenleiter am MDC war Helmut Kettenmann. „Das müssen Sie sich mal anschauen“, hatte sein früherer Kollege Ganten am Telefon gesagt und ihn dann von Heidelberg nach Berlin gelockt. „Wir waren eine Handvoll junger Wissenschaftler aus den alten Bundesländern. Zusammen hausten wir im Gästehaus und ständig war das eine Telefon belagert, von dem aus man in den Westen telefonieren konnte“, erinnert sich Kettenmann, der sich als Neurowissenschaftler großes Renommee am MDC erwerben sollte. Wenn er an den Aufbruch denkt, fällt ihm auch das Wort „Sozialstress“ ein, ausgelöst durch die erbitterte Konkurrenz der Mehr-als-zweitausend um 350 Stellen – so viel gab das Budget des MDC anfangs nur her. Mithilfe von Bundesprogrammen, EU-Mitteln und Ausgründungen konnte der neue Direktor dann viele Ehemalige in Lohn und Brot halten, zumindest für eine Weile. „Keiner hätte das besser hinbekommen“, ist Helmut Kettenmann überzeugt. Und auch der anfangs reservierte Erhard Geißler sagt: „Heute bin ich heilfroh, dass Ganten den Posten bekam. Es war eine schwere Geburt, aber er hat ein prachtvolles Ganzes geschaffen.“
Zwölf Jahre, bis 2004, sollte Detlev Ganten das MDC leiten. In dieser Zeit ging es beständig aufwärts. Wissenschaftlich sei es das Paradies auf Erden gewesen, sagt Thomas Sommer, der 1993 als Nachwuchsgruppenleiter nach Buch kam: „Wir hatten unwahrscheinliche Freiheiten.“ Das zog immer mehr Talente und Koryphäen aus dem In- und Ausland auf den Campus, es entstanden schöne neue Gebäude mit Laboren und Büros, ein Skulpturenpark wurde eröffnet, die klinische Zusammenarbeit ausgebaut und der angrenzende Biotechnologie-Park musste schon bald vergrößert werden. Das freute nicht zuletzt die Politik vor Ort und schuf gute Beziehungen, aufmerksam gepflegt von Detlev Ganten – auch wenn die Terminkalender überquollen. Denn in seinen Bucher Jahren kamen viele Aufgaben hinzu: im Wissenschaftsrat und Nationalen Ethikrat, als Vorsitzender der Helmholtz-Gemeinschaft und Präsident der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte – um nur einige Adressen zu nennen. Wie es dem Vielbeschäftigten gelang, auch noch ein enzyklopädisches Sachbuch zu verfassen („Leben, Natur, Wissenschaft – alles was man wissen muss“, 2003, 600 Seiten) ist sein Geheimnis.
Über die Charité zum World Health Summit
Die Grundlagenforschung am MDC sollte kranken Menschen möglichst schnell zugutekommen. Daher gab es von Anfang an eine enge Verbindung zu einer der größten Universitätskliniken Europas, der Charité. 2003 hatte der Berliner Senat die Fusion der zuvor konkurrierenden Kliniken von Freier Universität und Humboldt-Universität zur „Charité – Universitätsmedizin Berlin“ beschlossen und beauftragte Detlev Ganten bald darauf mit der Umsetzung. „Ich habe gekämpft wie ein Löwe, um die drei Standorte zu erhalten“, sagte der ehemalige Vorstandsvorsitzende später im Interview. Das glückte auch, ebenso wie die Erzeugung eines ersten Gemeinschaftsgefühls. Doch dem zunehmenden Spardruck mit all seinen Konsequenzen hielt die Charité-Leitung nicht stand. Im September 2008 übergab Ganten sein Amt an den Neurologen und vormaligen Wissenschaftsrats-Vorsitzenden Karl-Max Einhäupl.
Kurz darauf begann die dritte Karriere des Detlev Ganten. „Er kam in mein Büro und schlug vor, einen World Health Summit für globale Gesundheit an der Charité zu gründen“, berichtet Einhäupl. Begeistert sei er von der Idee nicht gewesen, wozu brauche man so etwas, habe er gefragt. Aber Ganten ließ nicht locker. Einhäupl: „Als er das nächste Mal kam, hatte er Kanzlerin Merkel und den damaligen französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy für die Schirmherrschaft gewonnen und war so enthusiastisch – ich konnte nicht mehr Nein sagen.“
Der erste Weltgesundheitsgipfel fand 2009 statt, als einer der Höhepunkte der 300-Jahr-Feier der Charité – und mit Detlev Ganten als Gründungspräsident. Gekommen waren rund siebenhundert Experten aus Medizin, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft aus vielen Ländern, um Fragen der globalen Gesundheitsversorgung zu diskutieren und Empfehlungen auszusprechen. Seither tagt der WHS, so die Abkürzung, alljährlich im Oktober in Berlin. Inzwischen nehmen regelmäßig um die 2500 internationale Fachleute an den Präsenzveranstaltungen teil, es gibt Regionaltreffen in aller Welt und zu den Unterstützern zählen auch EU-Kommission und WHO.
Helmholtz und Virchow ehren
„Heute ist der World Health Summit eines der wichtigsten internationalen Fachtreffen“, sagt Ilona Kickbusch, Professorin für globale Gesundheit in Genf. Deutschland habe auf dieser Bühne zuvor keine große Rolle gespielt. „Das hat sich grundlegend geändert. Inzwischen reagieren Minister aus aller Herren Länder verschnupft, wenn sie nicht eingeladen werden“, berichtet Kickbusch, die seit 2009 alljährlich dabei ist und die Entwicklung des Formats mit Rat und Tat begleitet. Das seit einigen Jahren ausgeprägte Engagement der Bundesregierung in Sachen globaler Gesundheit werde durch den WHS verstärkt und auch sichtbarer. Kickbusch: „Es ist eine sehr starke Organisation, die Detlev Ganten jetzt in die Hände der neuen Charité-Leitung gibt.“
In seinem achtzigsten Lebensjahr hat der umtriebige Forscher, Wissenschaftsmanager und Menschenfreund beschlossen, noch einmal etwas Neues zu unternehmen. Er engagiert sich beim Berliner Wissenschaftsjahr 2021, unter anderem mit Lesungen aus seinem neuen populärwissenschaftlichen Buch „Die Idee des Humanen“ mit den Protagonisten Hermann von Helmholtz und Rudolf Virchow. Ob er überhaupt Zeit für eine Geburtstagsfeier findet, vielleicht später im Jahr? Diese Frage beantwortete Detlev Ganten neulich so: „Zeit hat man immer für alles, was einem wichtig ist. Und mit Freunden zu feiern, aus welchem Anlass auch immer, war in meinem Leben immer wichtig.“
Text: Lilo Berg