Nager mit Hybridantrieb

Wenn der Sauerstoff knapp wird, schaltet der Nacktmull seinen Stoffwechsel um und gewinnt Energie aus Fruktose statt Glukose.

Der Nacktmull ist ein zähes Nagetier, das in weitläufigen unterirdischen Höhlen in Ostafrika lebt. Sehr viel länger als andere Landsäuger kann der nackte Nager weitgehend oder sogar ganz auf Sauerstoff verzichten. Das Geheimnis ist sein Metabolismus: Zusätzlich zu dem normalen Grundmodus, mit dem Säugetiere Glukose in Energie umsetzen, verfügt der Nacktmull über ein Backup-System, das Fruktose verstoffwechselt. Diese Entdeckung machte das Forscherteam von Prof. Gary Lewin am Max-Delbrück-Centrum (MDC), das gemeinsam mit Teams aus verschiedenen anderen Ländern an dem Thema arbeitet. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forscherinnen und Forscher nun in Science.

Sauerstoff ist lebensnotwendig. Ohne ihn sterben Säugetiere schon nach einer sehr kurzen Zeit, ihre Zellen müssen ständig damit versorgt werden. Nur so können die chemischen Reaktionen stattfinden, die aus Nahrung Energie erzeugen. Vor Urzeiten entwickelten Zellen einen Stoffwechsel, der auf die Zuckerart Glukose als Treibstoff setzte. Mit Hilfe von Sauerstoff entziehen sie dem Zucker seine Energie. Der Glukose-basierte Stoffwechsel ist extrem effizient und kann die Körper von Menschen und noch größeren Säugetieren mit Energie versorgen. Also setzte er sich im Laufe der Evolution durch.

Doch extreme Lebensbedingungen können selbst die grundlegendsten biologischen Abläufe einer Tierart beeinflussen und verändern. Vor langer Zeit sahen sich die Vorfahren des Nacktmulls gezwungen, unterirdisch zu leben. Biologie und Verhalten der Nager traten damit in einen evolutionären Dialog mit den unwirtlichen Umweltbedingungen unter der Erde. Die Tiere entwickelten so einige ungewöhnliche Eigenschaften. Nacktmulle sind nicht nur unempfindlich gegen bestimmte Arten von Schmerz, sie können auch älter als 32 Jahre werden – zehnmal so alt wie die meisten anderen Nagetiere. Bisher konnten bei Nacktmullen nur ein oder zwei Fälle von Krebs nachgewiesen werden. Und damit nicht genug: Ein Forschungsteam am MDC stellten jetzt außerdem fest, dass die kleinen Tiere außergewöhnlich lange mit wenig bzw. ganz ohne Sauerstoff auskommen.

Diese Fähigkeiten weckte das Interesse von Wissenschaftlern aus aller Welt, darunter der Neurobiologe Prof. Gary Lewin. In jahrelanger Arbeit hat sein Forschungsteam viel über die Biologie der Schmerzempfindung gelernt. Dafür verglichen die Forscherinnen und Forscher das Nervensystem des Nacktmulls mit denen von Mäusen und Menschen.

Als Lewin erfuhr, dass der Nacktmull auch extremen Sauerstoffmangel überlebt, war er sofort fasziniert. Er und sein Team machten sich umgehend an die Arbeit, die Gründe für diese einzigartige Eigenschaft zu enträtseln.

Sauerstoffmangel und ein außergewöhnlicher Stoffwechsel

Nacktmull auf dem Mars: Keine Probleme mit dem Sauerstoffmangel.  Bild: Russ Hodge, MDC.

Lebensumfeld, Lebensweise und Biologie des Nacktmulls sind eindeutig durch Sauerstoffmangel geprägt. „Nacktmulle leben in riesigen, unterirdischen Tunnelsystemen eng beieinander. Eine Kolonie kann bis zu 280 Tiere umfassen“, erklärt Lewin. „Sie müssen immer wieder damit fertig werden, dass der Sauerstoffgehalt der Luft rapide sinkt, während der Kohlendioxidgehalt drastisch ansteigt. Ohne Anpassungen wäre diese Umgebung für den Nacktmull ebenso tödlich wie für andere Säugetiere.“

Die meisten Organismen sind auf ein Leben in der Oberflächenatmosphäre eingestellt. Diese besteht zu etwa 21 Prozent aus Sauerstoff und nur zu einem sehr geringen Teil aus Kohlendioxid (etwa 0,04 Prozent).

Mit nur fünf Prozent Sauerstoff in der Atemluft überleben Mäuse für etwa 15 Minuten, bei völligem Sauerstoffentzug weniger als eine Minute. Der Nacktmull kann dagegen über Stunden mit einem Sauerstoffgehalt von nur 5 Prozent und hohem Gehalt an Kohlendioxid in der Luft auskommen. Dabei zeigt er weder Anzeichen von Schmerz oder Not, noch trägt er Schäden davon. Und was noch erstaunlicher ist: Nacktmulle können mindestens achtzehn Minuten lang ganz ohne Sauerstoff überleben.

„Unter solch extremen Bedingungen verfallen die Tiere in eine Art Scheintod“, erklärt Dr. Jane Reznick, die als Postdoc in Lewins Forscherteam arbeitet und zu den Erstautoren der Studie zählt. „Sie schlafen ein, und ihr Pulsschlag verlangsamt sich auf etwa ein Viertel der normalen Frequenz. Sobald der Sauerstoffgehalt wiederhergestellt ist, steigt die Herzfrequenz wieder an, die Tiere wachen auf und machen ganz normal weiter wie zuvor.“

Dieses Verhalten wies darauf hin, dass es eine Art Backup-System geben muss, das Herz und Gehirn der Tiere schützt – Organe, die bei anderen Tieren sehr empfindlich auf Sauerstoffmangel reagieren. Ohne Sauerstoff können Herz- und Hirnzellen keine Energie erzeugen und erleiden sehr schnell fatale Schäden.

Als würde man das Fließband anhalten

Der Stoffwechsel von Nacktmullen muss sich also in irgendeiner Weise grundlegend von dem anderer Säugetiere unterscheiden. Um herauszufinden, worin genau der Unterschied liegt, suchten die Forscher die Unterstützung von Dr. Stefan Kempa und seinem Team von der Metabolomik-Plattform am MDC. Kempas Team erstellt umfassende und quantitative Momentaufnahmen des zellulären Stoffwechsels. Dadurch können sie die Zwischenprodukte des Stoffwechsels nachweisen, so genannte Metabolite. Diese Moleküle entstehen zum Beispiel, wenn Enzyme Zucker aufspalten und auf diese Weise Energie erzeugen. „Diese Experimente sind in etwa so, als würden wir das Fließband in einer Fabrik anhalten,“ sagt Kempa. „Dann schauen wir, was bereits zusammengesetzt wurde und welche Teile aussortiert wurden. So lernen wir indirekt, was in der Fabrik wie hergestellt wird.“

In weiteren Experimenten verfolgten die Wissenschaftler Zucker-Metabolite, welche die Zelle in einen Stoffwechselweg dirigierte, bei dem zwar Energie erzeugt, aber kein Sauerstoff verbraucht wurde.

Dann verglichen sie, wie sich das Gewebe von Mäusen und Nacktmullen bei Sauerstoffentzug verhielt und entdeckten sie einige sonderbare Unterschiede. Ohne Sauerstoff schalteten sich die Energiefabriken der Zelle, die Mitochondrien, in den Nacktmulle ab. Bei den Mäusen dagegen liefen sie weiter, zeigten aber schnell Funktionsausfälle, denn Mitochondrien benötigen Sauerstoff für ihre Arbeit.

Die überraschendste Entdeckung hatte jedoch mit den Zuckermolekülen im Blut und Gewebe der Tiere zu tun. Die Nacktmulle hatten insgesamt sehr viel weniger Glukose im Körper als Mäuse. Unter Sauerstoffentzug stieg der Gehalt anderer Zuckerarten im Blut und Gewebe der Nacktmulle deutlich an. Einer dieser Zucker war Saccharose, also gewöhnlicher Haushaltszucker. Wirklich beeindruckend waren die Fruktose-Werte: Sie schossen explosiv in die Höhe.

Können Neuronen richtig arbeiten, wenn sie nur mit Fruktose versorgt werden?

War es möglich, dass der Nacktmull als Energiequelle Fruktose anstatt Glukose nutzte? Die beiden Zuckerarten unterscheiden sich nicht wesentlich. Auch im menschlichen Körper gibt es Fruktose-basierten Stoffwechsel, wenn auch nur in Niere und Leber. Diese Organe verfügen über Ketohexokinase (KHK). Dieses Enzym verändert die Fruktose, sodass sie von der Energieerzeugung des Körpers verwertet werden kann. Die modifizierte Fruktose – das so genannte Fruktose-1-Phosphat (F1P) – wird dann wie Glukose weiterverarbeitet. Die weiteren Verarbeitungsstufen kommen ohne Sauerstoff aus. Für ein Stoffwechselsystem, das auf Fruktose basiert, wäre Sauerstoff also nicht zwingend notwendig.

„Beim Menschen gibt es nur in Niere und Leber einen Fruktose-Stoffwechsel, da dies die einzigen Gewebe sind, die KHK enthalten,“ erklärt Lewin. „Im Hirngewebe des Nacktmulls haben wir einen hohen Gehalt an F1P gefunden. Das weist darauf hin, dass dort KHK im Einsatz ist. Diese hohen Werte gab es jedoch nur bei Sauerstoffmangel. Daran konnten wir zweierlei ablesen. Erstens, dass die Gehirne der Nacktmulle tatsächlich Fruktose als Energiequelle nutzen. Und zweitens, dass sie ihren Stoffwechsel nur umschalten, wenn der Sauerstoff knapp wird.“

Diese Hinweise auf einen Fruktose-Stoffwechsel mehrten sich während des Forschungsprojekts, doch sie waren allesamt nur indirekt. Im nächsten Schritt wollte Lewins Team daher nachweisen, ob die Tiere tatsächlich diese alternative Energiequelle nutzten.

Zuerst führten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Experimente am Hirngewebe von Nacktmullen und Mäusen durch. Sie überprüften, ob die Neuronen auch ausschließlich mit Fruktose und ohne Glukose auskommen. Während die Hirnzellen von Mäusen nach einer Stunde schwer geschädigt waren, wiesen die Neuronen der Nacktmulle weiterhin Aktivität auf. Experimente, die das Forscherteam von Prof. Michael Gotthardt mit Nacktmullherzen durchführten, zeigten sogar noch dramatischere Ergebnisse: Die Herzen schlugen bei Fruktose-Versorgung ebenso gut wie mit Glukose.

„Damit war der Beweis erbracht, dass Hirn und Herz des Nacktmulls anstelle von Glukose auch Fruktose als Energiequelle nutzen können", sagt Reznick. „Das hilft uns zu verstehen, warum diese Organe – und die Tiere selbst – sich von lang andauerndem Sauerstoffmangel erholen können.“

Doppelsystem schaltet auf alternative Energiequelle um

Zellen können Fruktose nur dann als Energiequelle nutzen, wenn sie sie aus ihrer Umgebung aufnehmen können. Hierzu benötigen sie das Protein GLUT5. Es greift Fruktose auf und transportiert sie in die Zelle. Bei Mäusen und Menschen tritt GLUT5 in Niere und Leber auf, in anderem Gewebe gibt es das Protein jedoch kaum. Dies ist ein weiterer Grund dafür, warum der Fruktose-Stoffwechsel bei Menschen nur in Niere und Leber stattfindet und nicht auch lebenswichtige Organe wie Gehirn und Herz versorgen kann. Beim Nacktmull weist auch das Gewebe dieser Organe, ebenso wie die meisten anderen Zellen, einen zehnmal höheren Gehalt an GLUT5 auf.

„Damit verfügt der Nacktmull über ein doppeltes System, dass es ihm ermöglicht, lang andauernden Sauerstoffmangel zu überleben“, sagt Lewin. „Überall in ihrem Körper haben diese Tiere sowohl das Transportprotein GLUT5 als auch das Enzym KHK, das Fruktose in eine nutzbare Energiequelle verwandelt.“

Beim Menschen taucht der Fruktose-Stoffwechsel auch im Zusammenhang mit Krankheiten wie Krebs, dem metabolischen Syndrom und Herzversagen auf. Möglicherweise steht der Stoffwechsel des Nacktmulls in Verbindung mit der Krebsresistenz des Nagers und vielleicht sogar mit seiner außergewöhnlich hohen Lebenserwartung. Um das zu beweisen, bedarf es weiterer Forschung. Die aktuelle Studie liefert hierzu und zu ähnlichen Fragen jedoch spannende neue Ansatzpunkte.

„Es ist wichtig zu untersuchen, wie diese ungewöhnlichen Tiere ihren Stoffwechsel ohne offensichtliche Langzeitschäden für das Gewebe umschalten“, erklärt Lewin. „Vielleicht finden wir heraus, wie unsere eigenen Zellen mit Sauerstoffmangel umgehen, zum Beispiel bei einem Schlaganfall oder Herzinfarkt. Unsere Forschungsarbeit wirft Fragen zur Biologie des Fruktose-Stoffwechsels auf, die der Wissenschaft über Jahre hinweg Treibstoff liefern dürften.“

Bilder: Roland Gockel / MDC


Thomas J. Park1, Jane Reznick2, Bethany L. Peterson1 , Gregory Blass1 , Damir Omerbašić2, Nigel C. Bennett3, P. Henning J.L. Kuich4, Christin Zasada4, Brigitte M. Browe1, Wiebke Hamann5, Daniel T. Applegate1, Michael H Radke5,10, Tetiana Kosten2, Heike Lutermann3, Victoria Gavaghan1, Ole Eigenbrod2,  Valérie Bégay2, Vince G. Amoroso1, Vidya Govind1, Richard D. Minshall7, Ewan St. J. Smith8, John Larson9, Michael Gotthardt5,10, Stefan Kempa4, Gary R. Lewin2,11 (2017): „Fructose driven glycolysis supports anoxia resistance in the naked mole-rat.“ Sciencedoi:10.1126/science.aab3896

1Laboratory of Integrative Neuroscience, Department of Biological Sciences, University of Illinois at Chicago, Chicago, Illinois, United States of America; 2 Molecular Physiology of Somatic Sensation, Max Delbrück Center for Molecular Medicine, Berlin, Germany; 3Department of Zoology and Entomology, University of Pretoria, Pretoria, Republic of South Africa; 4Integrative Proteomics and Metabolomics, Berlin Institute for Medical Systems Biology, Max Delbrück Center for Molecular Medicine, Berlin, Germany; 5Neuromuscular and Cardiovascular Cell Biology, Max Delbrück Center for Molecular Medicine, Berlin, Germany; 7Departments of Anesthesiology and Pharmacology, University of Illinois at Chicago, Chicago, Illinois, United States of America; 8Department of Pharmacology, University of Cambridge, Cambridge, United Kingdom; 9Department of Psychiatry, University of Illinois at Chicago, Chicago, Illinois, United States of America; 10DZHK partner site Berlin, Germany; 11Excellence cluster Neurocure, Charité Universitätsmedizin Berlin, Germany