ERC zeichnet zukunftsweisende Ideen aus
Mit den ERC Starting Grants bekommen die erst 2021 etablierten Labore der Nachwuchsforscherinnen Stefanie Grosswendt und Alison Barker einen Schub: Sie können ihre Gruppen ausbauen und mit mehr Mitteln ihre Ideen verfolgen. Die Gutachter*innen des Europäischen Forschungsrates suchen nach ungewöhnlichen Ansätzen, die – sofern sie funktionieren – Türen aufstoßen und erheblichen Fortschritt ermöglichen können („frontier research“). Die Kandidat*innen müssen außerdem seit ihrer Promotion zwei bis sieben Jahre Erfahrung gesammelt haben und vielversprechende wissenschaftliche Erfolge vorweisen können. In diesem Jahr erhalten 397 europäische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlichster Fachrichtungen ERC Starting Grants.
Dr. Stefanie Grosswendt leitet eine BIH-Nachwuchsgruppe, die zum gemeinsamen Fokusbereich „Single-Cell-Ansätze für die Personalisierte Medizin“ des Berlin Institute of Health in der Charité (BIH), der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) gehört. Ihr Labor ist ko-affiliiert mit der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie der Charité unter Leitung von Frau Professorin Angelika Eggert der Charité und am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie (BIMSB) des MDC angesiedelt. In ihrem Projekt „Cellmates“ will Stefanie Grosswendt untersuchen, welche Zellen Nachbarn im Gewebe sind, wie genau sie Informationen austauschen und welche Konsequenzen sich daraus ergeben.
Dr. Alison Barker war Postdoktorandin in der Gruppe von Professor Gary Lewin am MDC. Seit Dezember 2021 leitet sie ihre eigene Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Ihr Projekt trägt den Titel „Softchirp“, angelehnt an das Begrüßungszwitschern der Nacktmulle. Sie interessiert sich dafür, wie neuronale Schaltkreise die damit verbundenen Informationen verarbeiten und wie solche Laute dazu beitragen, dass sich soziale Einheiten organisieren.
Wer soll ich werden und wo soll ich hin?
Wie wandelbar Zellen sind, ist während der Entwicklung eines Embryos offensichtlich. Nach und nach bildet sich aus einer befruchteten Eizelle ein ganzer Organismus. „Aber dazu muss jede einzelne Zelle erst einmal wissen, was sie werden soll und zum Teil auch wohin sie eigentlich noch wandern muss“, sagt Stefanie Grosswendt. „Deshalb bekommt eine Zelle immer wieder Signale aus ihrer unmittelbaren Umgebung – wir wollen dieses Zusammenspiel entziffern und verstehen, wie es dazu beiträgt, dass sich Zellen spezialisieren und so ihren Weg finden.“
Diesen fein austarierten Prozess analysiert die Nachwuchsforscherin anhand von Zellen der Neuralleiste von Mäuseembryonen. Diese Zellen sind zunächst multipotent; sie entwickeln sich dann in ganz unterschiedliche Zelltypen, von Pigmentzellen der Haut über Knorpelelemente des Kiefers bis hin zum Nebennierenmark. Geht etwas schief, können bereits vor der Geburt zum Beispiel Krebszellen des Neuroblastoms entstehen.
„Bisher wissen wir nicht, wie komplex die Wechselwirkungen zwischen Zellen sein können und welche Auswirkungen das jeweils auf das Zellschicksal hat“, sagt Grosswendt. Sie will daher die Technologien der Einzelzellanalyse so weiterentwickeln, dass man benachbarte Zellen im Gewebe präzise identifizieren und gleichzeitig ermitteln kann, welche Signale sie sich senden und wie sie dadurch gegenseitig ihre Eigenschaften beeinflussen.
Enormes Potenzial für die medizinische Forschung
„Ein und dasselbe Signal kann unterschiedliche Antworten auslösen, je nach Zelltyp“, sagt Grosswendt. Die Zellen lesen danach andere Gene ab als zuvor, ändern mitunter sogar ihre Identität. „Diese Prinzipien der Zellkommunikation kommen nicht nur während der Entwicklung oder im gesunden Gewebe zum Tragen. Die Zellen innerhalb eines Tumors beeinflussen sich ebenfalls gegenseitig. Das kann die Genaktivität einiger Krebszellen so verändern, dass sie schwerer zu therapieren sind.“
Substanzielles Potenzial für die medizinische Forschung sahen auch die ERC-Gutachter*innen. „Das hat mich besonders gefreut, dass sie unseren wissenschaftlichen Ansatz ebenso spannend fanden wie unsere Gruppe“, sagt Grosswendt. „Wir werden unsere Methoden vielfältig anwenden können: auf Modelorganismen, Organoide – also organähnliche Mikrostrukturen – und auf Proben von Patient*innen.“ Genau deshalb passen sie so gut in den gemeinsamen Fokusbereich „Single-Cell-Ansätze für die personalisierte Medizin“ von BIH und MDC. „Ich bin sehr dankbar für die Unterstützung, die ich im Vorfeld hatte – und meinen PhD-Studierenden, deren erste Datenanalysen bereits in die Bewerbung eingeflossen sind. Wir legen jetzt richtig los.“
Die Begrüßungsrufe der Nacktmulle
Auch Alison Barker freut sich sehr über die Förderung. „Wir wissen erstaunlich wenig darüber, wie soziale Informationen, die in akustischen Signalen kodiert sind, anschließend in neuronalen Netzwerken des Gehirns entschlüsselt werden“, sagt sie. Dabei hat Sprache wesentlichen Anteil daran, dass wir soziale Bindungen knüpfen und festigen können. Der Mensch kann sich außergewöhnlich gut über stimmliche Signale verständigen, doch es gibt im gesamten Tierreich viele Arten der akustischen Kommunikation.
Barker untersucht die vokale Kommunikation beim Nacktmull, einem sehr gesprächigen und äußerst sozialen Nagetier, das in großen Mehrgenerationenkolonien unter der Herrschaft eines einzigen brütenden Weibchens, der Königin, lebt. Zusätzlich zu ihrer extremen Kooperationsbereitschaft sind diese Nagetiere sehr stimmlich und verfügen über ein Repertoire von mehr als 25 verschiedenen Vokalisationen, das mit dem von nicht-menschlichen Primaten vergleichbar ist. „Nacktmulle verwenden Begrüßungsrufe, den soft chirp, um Informationen über die individuelle Identität und die Zugehörigkeit zur Kolonie auszutauschen“, sagt Barker. „Anhand dieser spezialisierten stimmlichen Signale wollen wir die zugrundeliegenden neuronalen Schaltkreise verstehen, die die soziale Erkennung ermöglichen, und wie sie diese Signale an Veränderungen in sozialen Situationen anpassen.“
Weiterführende Informationen
- Pressemitteilung des ERC
- Einzelzellforscherin Stefanie Grosswendt ausgezeichnet
- Vier neue Gruppen nutzen Einzelzellmethoden für die Medizin
- Fokusbereich „Single-Cell-Ansätze für die personalisierte Medizin“
- AG Barker
- Nacktmulle sprechen Dialekt
Kontakte
Dr. Stefanie Grosswendt
Leiterin der Arbeitsgruppe „Vom Zellzustand zur Funktion“
Gemeinsamer Fokusbereich „Single-Cell-Ansätze für die personalisierte Medizin“ von BIH und MDC
Stefanie.Grosswendt@mdc-berlin.de
Jana Schlütter
Redakteurin, Abteilung Kommunikation
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC)
+49 30 9406-2121
jana.schluetter@mdc-berlin.de oder presse@mdc-berlin.de
- Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC)
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Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft gehört zu den international führenden biomedizinischen Forschungszentren. Nobelpreisträger Max Delbrück, geboren in Berlin, war ein Begründer der Molekularbiologie. An den MDC-Standorten in Berlin-Buch und Mitte analysieren Forscher*innen aus rund 60 Ländern das System Mensch – die Grundlagen des Lebens von seinen kleinsten Bausteinen bis zu organübergreifenden Mechanismen. Wenn man versteht, was das dynamische Gleichgewicht in der Zelle, einem Organ oder im ganzen Körper steuert oder stört, kann man Krankheiten vorbeugen, sie früh diagnostizieren und mit passgenauen Therapien stoppen. Die Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen rasch Patient*innen zugutekommen. Das MDC fördert daher Ausgründungen und kooperiert in Netzwerken. Besonders eng sind die Partnerschaften mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin im gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center (ECRC) und dem Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité sowie dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK). Am MDC arbeiten 1600 Menschen. Finanziert wird das 1992 gegründete MDC zu 90 Prozent vom Bund und zu 10 Prozent vom Land Berlin.