📺 Forschung für ein langes Leben
Nacktmulle sind faszinierende Wesen. Die ostafrikanischen Nager werden für ein Tier ihrer Größe nahezu unfassbar alt und erkranken in ihrem meist mehr als drei Jahrzehnte währenden Leben praktisch nie an Herzleiden oder Krebs. Zudem können sie fast zwanzig Minuten ohne Sauerstoff auskommen, ohne dass ihr Gehirn dabei Schaden nimmt. Das Hirn einer Maus beispielsweise ist schon nach einer Minute Sauerstoffentzug irreparabel zerstört. Und auch der Mensch schafft es ohne ausgefeiltes Training meist nicht länger als zwei, drei Minuten, die Luft anzuhalten.
Die Strategien zu verstehen, mit deren Hilfe sich die Nacktmulle im Laufe der Evolution ihre beeindruckenden Eigenschaften zugelegt haben, ist eines der wichtigsten Ziele der australischen Wissenschaftlerin Dr. Jane Reznick, die seit 2011 in der MDC-Arbeitsgruppe „Molekulare Physiologie der somatosensorischen Wahrnehmung“ von Professor Gary Lewin den Stoffwechsel der Nager erforscht. Reznick hofft, dass eines Tages auch der Mensch von ihren Studien profitiert.
Starthilfe für den Aufbau einer Arbeitsgruppe
Große Aufmerksamkeit erregte insbesondere eine vor zwei Jahren im Fachblatt „Science“ erschienene Publikation von Reznick. Gemeinsam mit einem internationalen Team aus 25 Kolleginnen und Kollegen, darunter viele vom MDC, hatte die Wissenschaftlerin damals herausgefunden, mit welchen Stoffwechseltricks Nacktmulle einem länger anhaltenden Sauerstoffmangel trotzen. Dieser kommt in der Natur durchaus häufiger vor: Die Tiere leben in den trockenen Steppen Ostafrikas in weit verzweigten, unterirdischen Höhlen und schlafen dort in der Regel alle auf einem Haufen. Für die unteren Tiere wird die Luft dann schon mal knapp.
Für ihre auf dieser Studie aufbauenden innovativen Forschungspläne wird die 37-jährige Molekularbiologin jetzt mit einem der begehrten Starting Grants des Europäischen Forschungsrats (European Research Council, kurz ERC) belohnt. Mit ihm sollen junge und vielversprechende Forscherinnen und Forscher unterstützt werden, die eine unabhängige Karriere beginnen und dazu eine eigene Arbeitsgruppe aufbauen möchten. In den kommenden fünf Jahren stellt der ERC Reznick zu diesem Zweck insgesamt 1,55 Millionen Euro zur Verfügung. Um eine eigene Arbeitsgruppe zu gründen, wird sie das MDC verlassen.
Dank Fruchtzucker schlägt das Herz auch ohne Sauerstoff
„Sauerstoffmangel im Körper oder einzelnen Organen, auch Hypoxie genannt, ist ein entscheidender Faktor bei vielen Herz-Kreislauf-Problemen, zum Beispiel bei Herzinfarkten oder Schlaganfällen“, sagt Reznick. Auch in bösartigen Tumoren ist die Hypoxie oft ein charakteristisches Merkmal. „Wenn wir die metabolischen Anpassungen der Nacktmulle besser verstehen, können wir vielleicht erklären, warum die Tiere so gut vor kardiovaskulären Erkrankungen und Krebs geschützt sind – und vielleicht auch aus diesem Grund so alt werden können“, sagt Reznick.
In ihrer Studie von 2017 konnte die Forscherin bereits zeigen, dass Nacktmulle bei Sauerstoffmangel ihren Stoffwechsel umstellen. Als Energielieferant dient den Tieren dann nicht länger Traubenzucker (Glukose), sondern Fruchtzucker (Fruktose). Diese Fähigkeit kennt man bislang von keinem anderen Tier, geschweige denn vom Menschen. Die meisten Säuger können Fruktose nur in zwei Organen, der Leber und der Niere, verwerten.
Darüber hinaus hat Reznick untersucht, welche Gene bei dem Wechsel vom Glukose- zum Fruktose-Stoffwechsel in den Nacktmullen besonders aktiv werden. „Einer meiner nächsten Schritte soll es nun sein, diese Gene auch in Mäusen anzuschalten“, sagt sie. „Und meine Hoffnung ist, dass dann auch diese Tiere besser vor den gefährlichen Folgen eines Sauerstoffmangels geschützt sind.“ Denn dann würden sich womöglich auch vergleichbare Therapien für den Menschen entwickeln lassen.
Schutz vor den Folgen eines Herzinfarkts
Reznick hält es durchaus für denkbar, dass es eines Tages gelingen könnte, den menschlichen Energiestoffwechsel im Herz und im Gehirn auf Fruktose umzustellen. „Vielleicht existiert ein solcher Mechanismus bereits und er ist nur stillgelegt“, spekuliert die Forscherin. „Dann könnte man ihn vermutlich gezielt zum Leben erwecken.“ Auf diese Weise würden sich die oft dramatischen Folgen eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls eventuell verhindern lassen. „Beide Ereignisse gehen ja mit einer mangelnden Versorgung des betroffenen Organs mit Sauerstoff – und folglich Energie – einher“, erläutert Reznick.
Der Wechsel vom Glukose- zum Fruktose-Stoffwechsel ist nur eine Strategie des Nacktmulls, die Reznick entdeckt hat. „Wir kennen inzwischen noch weitere metabolische Tricks, mit denen das Tier reagiert, wenn der Sauerstoff knapp wird“, sagt die Wissenschaftlerin. „Und offenbar tragen auch sie dazu bei, dass die Mulle so gesund sind und lange leben.“ In den kommenden Jahren will Reznick daher ergründen, welche Gene bei diesen Strategien aktiv sind und welche Signalwege angeschaltet werden. „Womöglich sind mehrere solcher Mechanismen auch beim Menschen vorhanden und nur stillgelegt“, sagt sie. „Könnten wir sie anschalten, ließe sich so vermutlich einer Vielzahl kardiovaskulärer Erkrankungen vorbeugen – die derzeit mit steigendem Alter ja leider zunehmen.“
Den ERC hat die Forscherin mit ihren Plänen jedenfalls überzeugen können. „Der Nacktmull, der weltweit bisher nur in sehr wenigen Laboren erforscht wird, ist bestimmt in der Lage, uns zu einem besseren Verständnis für die metabolischen Anpassungen zu verhelfen, mit deren Hilfe ein Lebewesen Sauerstoffmangel für einen gewissen Zeitraum unbeschadet übersteht“, sagt sie. „Mit Mäusen oder anderen Modellorganismen, die keine den Mullen vergleichbare Tricks auf Lager haben, wäre das sicherlich nicht möglich.“
ERC Starting Grants für vielversprechende Wissenschaft
ERC Starting Grants werden an Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler jeder Nationalität vergeben, die seit ihrer Promotion (oder einem gleichwertigen Abschluss) zwei bis sieben Jahre Erfahrung gesammelt haben und über eine vielversprechende wissenschaftliche Erfolgsbilanz verfügen. Die Forschung muss in einer öffentlichen oder privaten Forschungseinrichtung mit Sitz in einem der EU-Mitgliedstaaten oder assoziierten Länder durchgeführt werden. Die Förderung (maximal 2,5 Million Euro pro Zuschuss, davon bis zu 1 Million Euro zur Deckung außergewöhnlicher Kosten) ist für einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren vorgesehen. In diesem Jahr erhalten 408 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die begehrte Förderung.
Text: Anke Brodmerkel, Video: Felix Petermann
Weiterführende Informationen
- ERC-Pressemitteilung zu den Starting Grants 2019
- Zahlen und Fakten zu den Starting Grants 2019
- Der European Research Council
- Pressemitteilung: Wie Nacktmulle dem Sauerstoffmangel trotzen
Kontakt
Jana Schlütter
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft
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- Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC)
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Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft gehört zu den international führenden biomedizinischen Forschungszentren. Nobelpreisträger Max Delbrück, geboren in Berlin, war ein Begründer der Molekularbiologie. An den MDC-Standorten in Berlin-Buch und Mitte analysieren Forscher*innen aus rund 60 Ländern das System Mensch – die Grundlagen des Lebens von seinen kleinsten Bausteinen bis zu organübergreifenden Mechanismen. Wenn man versteht, was das dynamische Gleichgewicht in der Zelle, einem Organ oder im ganzen Körper steuert oder stört, kann man Krankheiten vorbeugen, sie früh diagnostizieren und mit passgenauen Therapien stoppen. Die Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen rasch Patient*innen zugutekommen. Das MDC fördert daher Ausgründungen und kooperiert in Netzwerken. Besonders eng sind die Partnerschaften mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin im gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center (ECRC) und dem Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité sowie dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK). Am MDC arbeiten 1600 Menschen. Finanziert wird das 1992 gegründete MDC zu 90 Prozent vom Bund und zu 10 Prozent vom Land Berlin.