Der Salz-Forscher
Die Idee war wieder einmal ungewöhnlich. Dominik Müller lud 20 Proband*innen ein, unter Laborbedingungen eine salzige Pizza zu essen. Zuvor hatte sein Team untersucht, wie es sich auf molekularer Ebene auswirkt, wenn man Immunzellen zu viel Salz zuführt: Die Natriumionen stören die Funktion der Mitochondrien, der Kraftwerke in den Zellen. Sie können weniger Energie bereitstellen. Im Blut der Pizzaesser*innen ergab sich das gleiche Bild.
„Aber die Mitochondrien erholen sich vollständig, wenn man nicht mehr salzig isst“, sagt Müller. „Acht Stunden später war der negative Effekt abgeklungen.“ Müller sitzt auf der Terrasse vor dem Labor seiner Arbeitsgruppe am Experimental and Clinical Research Center (ECRC) auf dem Forschungscampus Berlin-Buch, seine grauen Locken fallen ihm fast bis auf die Schulter. In seinen Augen funkelt die Freude darüber, dass die ungewöhnliche Idee mit der Pizza eine gute war.
Eine Frage des Wechselspiels
Der Körper ist ein hochkomplexes Regulationssystem, und das Spannende daran ist das Wechselspiel zwischen all den Prozessen und Einflüssen, die von außen kommen.
Dominik Müller ist jemand, der sich nicht gerne in Schubladen pressen lässt, der die Blickrichtung wechselt und Grenzen überschreitet, wenn ihm das aussichtsreich erscheint. Seine Arbeitsgruppe am ECRC, einer gemeinsamen Einrichtung von Max Delbrück Center und der Charité – Universitätsmedizin, die er mit Ralf Dechend leitet, nennt sich „Hypertonie-vermittelter Endorganschaden“. Sie beschäftigt sich also mit Bluthochdruck und den daraus resultierenden Schäden. Für Müller ist das eine Einladung, so breit zu denken, wie eben nötig. Also auch zu schauen, was Salz mit Immunzellen macht und wie sich das indirekt auf Bluthochdruck auswirkt. „Man kann den Menschen nicht in Einzelteile zerlegen“, sagt er. „Der Körper ist ein hochkomplexes Regulationssystem, und das Spannende daran ist das Wechselspiel zwischen all den Prozessen und Einflüssen, die von außen kommen.“
So haben sein Team und Kooperationspartner aus verschiedenen Disziplinen im Labor gezeigt, dass durch den vom Salz verursachten Energiemangel im Blut zirkulierende weiße Blutkörperchen, die Monozyten, anders reagieren. Monozyten verwandeln sich im Gewebe in Makrophagen, also Fresszellen, und töten dort etwa Erreger ab. Dank Salz machten sie das zwar besser. Ein positiver Effekt. Es gibt aber auch andere Szenarien, wo bei Energiemangel zu viele Makrophagen in die Nieren wandern und dort Entzündungsprozesse verursachen und das Risiko einer Herz-Kreislauf-Erkrankung erhöhen können.
Ob Salz also gut oder schlecht ist, ist eine Frage der Situation. „Wir versuchen, solche Zusammenhänge ganzheitlich zu betrachten. Denn beide Reaktionen gibt es, die gute wie die schlechte“, sagt Müller, der auch Principal Investigator am Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK) ist. Forschung sei niemals eindimensional. Ein Mechanismus, der die Gesundheit fördert, könne irgendwann Erkrankung heißen, wenn er dauerhaft zu stark aktiviert ist – und sich womöglich therapeutisch blockieren lassen, wenn man ihn gut genug verstanden hat.
Von der Blutdruck-Regulation zum Immunsystem
Vorgezeichnet war Dominik Müllers Weg nur am Anfang. Aus dem Schwarzwald kommend, studierte er zunächst Pharmazie an der Freien Universität Berlin, weil er das Fach von zu Hause kannte; sein Vater war Apotheker. „Das war eine sehr solide naturwissenschaftliche Ausbildung. Aber nach dem Studium war mir klar: Ich muss etwas anderes machen“, sagt Müller. Von Freunden der Familie erfuhr er, dass in Berlin gerade das Max Delbrück Center gegründet worden war. Er rief bei Friedrich C. Luft an, dem berühmten Nierenspezialisten und Herz-Kreislauf-Forscher. „Die Antwort war: Morgen kannst du anfangen“, erinnert sich Müller.
Plötzlich fand er sich zwischen den Molekularbiolog*innen und Mediziner*innen und forschte am Renin-Angiotensin-System, das den Salz- und Wasserhaushalt des Körpers sowie den Blutdruck reguliert. „Ich konnte vom ersten Tag an eigenständig forschen und mir war selbst überlassen, wie ich das Glück schaffe“, sagt Müller. Er fuchste sich in die Materie ein und wies in drei Jahren nach, dass dieses System auch innerhalb von Organen existiert. Bekannt war zuvor nur gewesen, dass es im Blut aktiv ist.
Nach der Doktorarbeit blieb er auf dem Campus Buch. Bis heute ist er da, 29 Jahre lang – mit Ausnahme einer vorübergehenden Professur an der Universität Erlangen, die ihm als notwendiger Karriereschritt nahegelegt wurde. „Viele Leute haben mich gefragt: Warum bist Du nie weg gegangen?“, sagt er. „Ich frage eher: Warum hätte ich fortgehen sollen? Ich bin an einem super Institut und habe sämtliche Freiheiten.“ So gelang es ihm auch, mit seiner Frau in Berlin vier Kinder großzuziehen.
Ich wollte die Mechanismen verstehen, die zu Bluthochdruck und Organschädigungen führen. Dabei sind wir auf das Immunsystem gestoßen.
Er öffnete seinen Blick für den gesamten Organismus, erst im Tier, später im Menschen. „Ich wollte die Mechanismen verstehen, die zu Bluthochdruck und Organschädigungen führen“, sagt Müller. „Dabei sind wir auf das Immunsystem gestoßen. Wir haben festgestellt, wie entscheidend eine überschießende Entzündungsreaktion dabei ist.“ Auf der Basis seiner Erkenntnisse erprobte er therapeutische Ansätze, um die Entzündungsreaktionen zurückzudrängen. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftler*innen vom Max Debrück Center gründete er 2013 die Firma Omeicos, die ein Medikament gegen Entzündungsprozesse bei Herzerkrankungen und Mitochondrien-Dysfunktion entwickelt. Der Wirkstoff basiert auf Substanzen, die aus Omega-3-Fettsäuren entstehen und deren herzschützende Wirkung Müller mit Kollegen am Max Delbrück Center belegen konnte. „Mir ist sehr wichtig, bei allem immer den Menschen vor Augen zu haben“, sagt er.
Wiener Schnitzel und Entzündungen
Die Idee, die Auswirkungen von Salz auf das Immunsystem zu untersuchen, hatte er, als er mit einem Freund, einem erfolgreichen Immunologen, bei einem zu salzigen Wiener Schnitzel zusammensaß. Konnte es sein, dass sich die Mahlzeit negativ auf T-Helferzellen auswirkt? Gemeinsam mit Forscher*innen aus Yale und Erlangen zeigte er 2013, dass genau dies der Fall war: Übermäßiger Salzkonsum regt T-Helferzellen an, vermehrt einen entzündungsfördernden Botenstoff zu produzieren, Interleukin-17. Die Folge ist unter anderem ein erhöhtes Risiko für Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose. Die in „Nature“ veröffentlichte Studie wurde über Fachgrenzen hinweg zitiert. „Damit wurde die Salzthematik, die vorher vor allem bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen beachtet wurde, in die Immunologie getragen.“
Die Wirkung von Salz im Körper zu ergründen, brachte Müller auch zum Mikrobiom. Er und der Kliniker Nicola Wilck entschieden, gemeinsam mit Mikrobiom-Forscher*innen einer bis dahin unbeantwortete Frage nachzugehen: Wie wirkt Salz sich auf die Darmbakterien aus? Zu viel Salz verringert bestimmte Milchsäurebakterien, erhöht aber die Anzahl und Aktivität der T-Helferzellen und damit das Risiko für Autoimmunerkrankungen und Bluthochdruck. Das Konzept wird in einer klinischen Studie am ECRC bei Proband*innen mit Bluthochdruck, die Milchsäurebakterien einnahmen, auf deren therapeutischen Nutzen untersucht.
Das Mikrobiom ließ Müller nicht mehr los, weil es eng mit dem Immunsystem zusammenhängt und krankheitsübergreifend eine Rolle spielt – für Herz, Niere, Gefäße oder bei Autoimmunerkrankungen. Immer häufiger widmet er sich Fragen, die den Lebensstil betreffen: Wirkt sich Fasten auf den Darm und das Herz-Kreislauf-System aus? Und was bewirkt eine ballaststoffreiche Ernährung?
An Mäusen konnten er und sein Team zeigen, dass Propionsäure, die Darmbakterien aus Ballaststoffen gewinnen, bluthochdruckbedingte Schädigungen des Herz-Kreislauf-Systems mildert. Denn die kurzkettige Säure beruhigt auf molekularer Ebene eben jene T-Helferzellen, die entzündliche Prozesse und Bluthochdruck befeuern. Auch hier zeigte sich, dass eine Volkskrankheit wie Bluthochdruck auch eine immunologische ist – und die Forschung daran ganzheitlich gedacht werden sollte.
Radikales Denken als Methode
Von außen betrachtet kann man drei Prinzipien in Dominik Müllers Werdegang ausmachen: unerwartete Wege gehen – Grenzen überschreiten – Dinge hinterfragen. Er fordert seine Mitmenschen zum kritischen Denken auf. „Ich finde die Frage durchaus gerechtfertigt, warum wir gewisse Sachen schon immer so machen und nicht ganz anders“, sagt er. „Think radical“ nennt er diese Methode. Für seine Mitarbeiter*innen hat er schon vor der Corona-Pandemie einen Home-Office-Tag eingeführt, um ihnen Zeit zum Denken außerhalb der Tretmühle zu geben. „Das ist für mich ein wichtiger Aspekt nachhaltiger Forschung, dass man Ergebnisse in Ruhe auswertet, bevor man weitermacht.“
Überhaupt, Nachhaltigkeit. Am Zentrum setzt Müller sich in einer Nachhaltigkeitskommission dafür ein, dass die Forschung nicht nur wissenschaftlich, sondern auch ökologisch sinnvoll ist. „Ich verstehe nicht, wie man das entkoppelt betrachten kann“, sagt er. „All meine Forschung für die Gesundheit macht doch nur Sinn, wenn es eine Welt von morgen gibt.“
Text: Mirco Lomoth
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