Michela Di Virgilio

Analystin der DNA-Reparatur

Damit das menschliche Immunsystem Krankheitserreger effektiv abwehren kann, müssen B-Zellen ihre eigene DNA zertrümmern und wieder zusammensetzen. Michela Di Virgilio sucht nach Faktoren, die diesen wichtigen Prozess steuern – und dadurch auch unsere Anfälligkeit für Krebs entscheidend beeinflussen.

Die Whiteboards im Büro von Dr. Michela Di Virgilio bleiben nie lange weiß. Ständig wachsen sie zu, mit Strukturformeln von Molekülen, Pfeilen und Abkürzungen: IgG1+, CSR, DSBs, 53BP1. Auf dem „Collaboration Board“ hinter ihrem Schreibtisch hat sie zuletzt einer Mathematikerin erklärt, wie die Vielfalt der Antikörper entsteht. Sie wollen gemeinsam Modelle dafür entwickeln. An einem weiteren Board behält sie den Überblick für bevorstehende Publikationen. „Darauf planen wir alle Experimente und diskutieren sie im Team“, sagt Di Virgilio. Sie spricht ein schnelles Englisch mit italienischem Akzent, mit einer Informationsdichte, die in wenigen Minuten gleich mehrere Whiteboards füllen könnte.

Michela Di Virgilio ist Molekularbiologin und Krebsforscherin. Am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) leitet sie die Nachwuchsgruppe „Genomdiversifikation & Integrität“. Mit ihrem zehnköpfigen Team untersucht sie, wie B-Zellen die Immunabwehr hochfahren und welche molekularen Prozesse ihnen helfen, ihre DNA so zu verändern, dass wirksame Antikörper entstehen können.

Dringen Erreger in den Körper ein und treffen auf die B-Zellen, beginnen diese sich zu vermehren und ein spezielles Enzym namens AID zu produzieren. Dieses Enzym tauscht Nukleotide aus, quasi Wörter in der Bauanleitung für jene Teile der Antikörper, die den Krankheitserreger erkennen. Das ermöglicht es den B-Zellen, genau diejenigen Antikörper zu produzieren, die auf den Erreger passen – und ihn unschädlich machen können.

Ein riskantes Manöver

Das Enzym AID leitet zudem einen zweiten wichtigen Prozess ein. Er führt dazu, dass B-Zellen fortan eine andere Klasse der Antikörper produzieren, um die Immunantwort breiter aufzustellen. Auch für diesen Klassenwechsel (oder CSR) ist es nötig, die genetische Information der B-Zellen zu verändern. Hierfür müssen beide DNA-Stränge zerbrochen und neu zusammengebaut werden – ein sehr riskanter Prozess. Wenn bei der Bildung oder Reparatur dieser Doppelstrangbrüche etwas schiefläuft, die DNA also an ungeeigneter Stelle durchtrennt oder falsch zusammengesetzt wird, können sich Tumoren bilden.

Ich fand den Gedanken immer faszinierend, dass die Evolution uns erlaubt, von einem solch beängstigenden Mechanismus zu profitieren.
Michela Di Virgilio
Michela Di Virgilio Leiterin der AG "Genomdiversifikation & Integrität"

„Alle Abweichungen können katastrophale Konsequenzen für unser Leben haben“, sagt Di Virgilio. Doch meist führt die fein abgestimmte Steuerung der DNA-Reparatur dazu, dass das Immunsystem eine Vielzahl von Erregern in Schach halten kann. „Ich fand den Gedanken immer faszinierend, dass die Evolution uns erlaubt, von einem solch beängstigenden Mechanismus zu profitieren“, sagt Di Virgilio. Sie will verstehen, mit welchen molekularen Prozessen die B-Zellen es schaffen, die Balance zwischen DNA-Brüchen und ihrer Reparatur aufrechtzuhalten und wodurch diese Präzision gestört werden kann.

An dieser Balance ist eine Vielzahl von Proteinen beteiligt. Eines davon entdeckte Di Virgilio während ihrer Zeit in New York. Nachdem sie für ihre Doktorarbeit an der Columbia University die grundlegenden Mechanismen der DNA-Reparatur in Zellen untersucht hatte, ging sie 2007 als Postdoc an die Rockefeller University. Hier spezialisierte sie sich auf Reparaturprozesse in B-Zellen – und entdeckte 2013, dass das Protein Rif1 wesentlich für den Schutz zerbrochener DNA-Enden ist.

Bereits zehn Jahre zuvor hatten Forschende herausgefunden, dass nach Doppelstrangbrüchen ein Protein namens 53BP1 die Enden der durchtrennten DNA davor beschützt, dass andere Proteine zu viel von ihnen abnagen. Nun stellte sich heraus, dass 53BP1 seine wertvolle Arbeit ohne Rif1 gar nicht leisten kann. „Es rekrutiert Rif1 zum Ort der Doppelstrangbrüche und ist erst danach in der Lage, den Weg für die richtige Art der DNA-Reparatur frei zu machen“, sagt Di Virgilio. Die Ergebnisse wurden in Science veröffentlicht. Wie genau die Funktion von Rif1 reguliert ist, ist bis heute unklar.

Knallharte Grundlagenforschung

Als Di Virgilio im Herbst 2014 von New York nach Berlin-Buch kommt, um am MDC eine Arbeitsgruppe in der Krebsforschung aufzubauen, sind diese und viele andere Fragen offen. Was sie seither vorantreibt, ist knallharte Grundlagenforschung. „Jedes Protein kann aber zur Basis für eine diagnostische Methode oder Krebstherapien werden“, sagt sie. Fieberhaft sucht ihr Team nach neuen Faktoren für die DNA-Reparatur oder den Klassenwechsel der Antikörper und versucht, die Funktionsweisen bereits bekannter zu entschlüsseln. Dafür nutzen sie unter anderem CRISPR/Cas, die „Gen-Schere“.

Michela Di Virgilio

2018 entdeckt Di Virgilio ZMYND8. Das Protein ist entscheidend für Klassenwechsel der Antikörper, allerdings für die Regulation der DNA-Brüche, nicht für deren Reparatur. ZMYND8 hilft dabei, das Enzym AID an die richtige Stelle im Genom zu geleiten. „Vermutlich sind Bruch und Reparatur viel genauer reguliert, als wir bisher dachten“, sagt Di Virgilio. 2019, sie hat gerade ihre Juniorprofessur an der Charité – Universitätsmedizin Berlin angenommen, stößt ihr Team auf eine mutierte Form von 53BP1. „Das war ein sehr spannender Zufallsfund. Wir haben dann sechs Monate lang nur das mutierte Protein analysiert“, sagt sie. Das Resultat stellt das Dogma in Frage, dass 53BP1 allein deshalb für den Klassenwechsel der Antikörper Bedeutung hat, weil es die zerbrochenen Enden schützt. „53BP1 unterstützt den Prozess des Klassenwechsels auch durch andere Funktionen und wir sind fest entschlossen, diese zusätzlichen Aktivitäten zu definieren.“

Die vorläufig letzte Entdeckung gelingt ihr und ihrem Team im Sommer 2020: Mit Hilfe von CRISPR/Cas finden sie das Protein Pdap1. Es sorgt dafür, dass überhaupt ausreichende Mengen von AID entstehen, um den Klassenwechsel der Antikörper zu ermöglichen. Außerdem schützt es die B-Zellen vor stressbedingtem Zelltod. Ein wichtiger Puzzlestein im Wirkungsgeflecht der Proteine. Doch schon ist sie dabei, ihrer Forschung eine weitere Lage an Komplexität hinzuzufügen, indem sie RNA-Moleküle mit Regulierungsmechanismen im Klassenwechsel in den Blick nimmt.

Manchmal kann sie nicht schnell genug im Büro sein

Di Virgilio öffnet ein Notizbuch mit digitalisierter Handschrift auf ihrem Tablet – es ist so etwas wie die Matrix ihrer Forschung. „In der linken Spalte notiere ich Fragen zu aktuellen Projekten, daneben Ideen für Folgeprojekte und ganz rechts langfristige Fragen, die mich bewegen“, sagt sie. Die rechte Liste ist am längsten. Wenn sie sich morgens mit ihrer blauen Lieblingstasse aus Emaille Kaffee holt, die Bürotür anlehnt und aus dem Fenster schaut, dann wächst die Liste oft noch weiter. „Es ist gut, weitreichende Fragen zu haben. Aber ich muss mich oft zurückpfeifen, um erstmal die konkreten abzuarbeiten, sonst gerät das System aus der Balance.“ Schritt für Schritt will sie so ihrem Fernziel näherkommen: alle Prozesse in B-Zellen zu verstehen, die an der Stabilität des Genoms mitwirken und dadurch Krebs und Immunschwächen vermeiden helfen.

Vieles an ihrer Arbeit ist mittlerweile Kommunikation. Ihre Bürotür steht fast immer offen, auf ihren Whiteboards laufen die Fäden ihres Teams zusammen und virtuell unterhält sie Kontakte zu Forschenden auf der ganzen Welt, organisiert Konferenzen. 2017 startete sie eine Helmholtz-Initiative zu „Immunologie und Inflammation“, an der 23 Labore aus fünf Helmholtz-Zentren beteiligt sind. „Ich mag es, Leute zusammenzubringen“, sagt sie. „Das bringt die Wissenschaft voran.

Auf dem Sideboard, über dem ein Porträt von Simone de Beauvoir hängt, das ihr Bruder für sie gemalt hat – „weil ich mitunter ziemlich hart sein kann“ – stapeln sich Fachartikel internationaler Journale. Sie hat sich die Freitage reserviert, um sie zu lesen und zu durchdenken. „Dann kann ich interessante Gedanken mit ins Wochenende nehmen und weiterentwickeln“, sagt sie. Ob sie zu Hause gut abschalten könne? Di Virgilio winkt ab, ihre beiden Söhne seien manchmal genervt von den ewigen B-Zellen. Wenn ein Gedanke sie verfolge, könne sie gar nicht schnell genug im Büro sein.

Grundlegende molekulare Mechanismen zu erforschen, sei nun einmal der schönste und furchtbarste Job zugleich. „Man muss ständig neue Ideen haben, die, auch wenn sie gut sind, oft zu nichts führen“, sagt Di Virgilio. Sie habe mühsam lernen müssen, mit Rückschlägen konstruktiv umzugehen. Den pinkfarbenen Riesen-Radiergummi auf ihrem Schreibtisch hat ihre Schwester ihr geschenkt. „For really big mistakes“, steht darauf. „In der Wissenschaft muss man sich erlauben, Fehler zu machen, wie im Rest des Lebens“, sagt sie. „Sonst macht man keine bedeutenden Entdeckungen.“

Text: Mirco Lomoth

 

Weiterführende Informationen