Lassen sich Tierversuche ethisch rechtfertigen?
Tierversuche sind ein heikles Thema. Während viele Tierschutzorganisationen ihre völlige Abschaffung fordern, halten Forschende dagegen, dass sie darauf angewiesen sind, um z.B. komplexe physiologische Prozesse zu verstehen und um Medikamente zu entwickeln.
Neben der Entwicklung von Alternativen zu Tierversuchen ist es erklärtes Ziel des Einstein-Zentrums 3R, die oftmals sehr emotional geführte Debatte zu versachlichen. Auf einer Podiumsdiskussion am 10. Oktober 2022 stellte das Zentrum die Frage: Lassen sich Tierversuche ethisch rechtfertigen? Neben Steffen Augsberg, Professor für Öffentliches Recht an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Mitglied des Deutschen Ethikrates, saßen die Professor*innen Michael Gotthardt vom Max Delbrück Center, der Sprecher des Einstein-Zentrums 3R, Stefan Hippenstiel von der Charité – Universitätsmedizin Berlin, sowie Anne Peters, Direktorin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, auf dem Podium.
Replace – Reduce – Refine
Jens Kurreck, Professor für Angewandte Biochemie der Technischen Universität Berlin und Co-Sprecher des Einstein-Zentrums 3R, moderierte den Abend. In seinen einleitenden Worten erläuterte er zunächst die 3R: Sie stehen für „Replace“ (Vermeiden), „Reduce“ (Verringern) und „Refine“ (Verbessern). Das bedeutet: Wenn es eine alternative Methode gibt, um eine wissenschaftliche Fragestellung zu beantworten, darf ein Tierversuch nicht stattfinden (Replace). Existiert keine Alternative, dürfen Forschende nur die unerlässliche Anzahl an Tieren einsetzen (Reduce). Darüber hinaus müssen sie die Versuche so gestalten, dass die Tiere dabei so wenig wie möglich belastet werden (Refine). Tierversuche werden in Deutschland nur dann genehmigt, wenn dieses 3R-Prinzip eingehalten wird.
Dass Menschen sich Tiere zu eigen machen, habe eine lange Tradition – so begann Augsberg seinen Impulsvortrag. Auch wenn wir Menschen und Tiere als nicht gleichwertig erachten – „im Zweifel entscheiden wir uns für das menschliche Leben“, sagt der Verfassungsrechtler und Tierethiker –, so betrachten wir Tiere doch als moralische Objekte, die zu achten und zu schützen sind. Speziell bei Tierversuchen unterscheiden wir zwischen niederen und höheren Spezies, schreiben ihnen eine unterschiedliche Leidensfähigkeit zu. Diese Unterscheidung sei nicht nur zulässig, sondern notwendig. So könnten es viele Menschen mit sich vereinbaren, wenn an Taufliegen, Fischen oder sogar Mäusen geforscht wird – an Primaten jedoch nicht. Wenn wir uns eine Zugriffsberechtigung aufs Tier zugestünden, müssten zugleich besondere Sorgfaltspflichten gelten. Jeder Tierversuch müsse dahingehend überprüft werden, ob die Belastung des Tieres zu einem Ergebnis führt, das diese Belastung rechtfertigt. Unter dieser Prämisse dürfen Tierversuche nur stattfinden, wenn sie absolut notwendig sind – v.a., wenn es um die menschliche Gesundheit geht. Sie verbieten sich jedoch, wenn sie angewendet werden sollen, um Kosten zu sparen, oder wenn es lediglich um die Verträglichkeit von Kosmetika geht.
3R ist ein dynamischer Prozess
Insofern sei das 3R-Prinzip eine Grundbedingung für Tierversuche. Es dürfe jedoch nicht als abgeschlossen verstanden werden, sondern sei ein „work in progress“, ein dynamischer Prozess, der sich beständig weiterentwickelt. „Wir dürfen uns mit dem Erreichten nicht zufriedengeben“ betonte Augsberg. „Das 3R-Konzept kennzeichnet Tierversuche als absolute Ausnahme. Damit drängt es auf ihre möglichst vollständige Ersetzung.“ Dieser Zugang könne unter Umständen für weitere Bereiche des Mensch-Tier-Verhältnisses vorbildhaft wirken.
In der anschließenden Diskussion berichtete Peters, dass in einigen Staaten auch Tieren ein Grundrecht auf Leben zugebilligt wird. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählt unter anderem globales Tierrecht. Zwar schütze der Staat die Interessen von Tieren, sagte sie, allerdings lediglich in Form objektiver Schutzrechte. Ein Recht auf Leben für Tiere hätte das Potenzial, die Gewalt gegen Tiere weltweit einzudämmen. Gleichzeitig unterstrich sie, dass ein solches Recht nicht gleichbedeutend damit wäre, dass Tiere nicht mehr für Versuche genutzt werden dürften – zumal das deutsche Tierschutzrecht die Grundlagenforschung ohnehin privilegiere. Sie würde sich allerdings mehr Unterstützung für die Alternativforschung wünschen: „In den vergangenen Jahren sind in Deutschland nach einigen Schätzungen nur fünf Millionen Euro in die Entwicklung von Alternativmethoden geflossen. Das ist lächerlich.“
Ethisches Dilemma der Wissenschaft
Ohne Tierversuche könnten wir manche Erkenntnisse zu den molekularen Mechanismen von Krankheiten oder zur Wirkung von Arzneimitteln nicht gewinnen.
Gotthardt, der am Max Delbrück Center die Arbeitsgruppe „Neuromuskuläre und kardiovaskuläre Zellbiologie“ leitet, betonte, dass es zum einen ureigenes Interesse der Wissenschaft sei, das Tierleid möglichst gering zu halten. „Jeder vermeidbare Stress, den Tiere im Versuch erleiden, kann die Versuchsergebnisse verfälschen“, erklärte der Forscher. In jedem Tierversuchsantrag müsse er darlegen, wie die Versuchstiere vor Belastungen geschützt würden. Zum anderen sei es auch das persönliche Interesse der Wissenschaftler*innen selbst, Tieren kein Leid zuzufügen. Mit seinem Team verwendet er künstliches Herzgewebe, um die Anzahl von Tierversuchen zu reduzieren. Doch man müsse sich zu dem ethischen Dilemma bekennen: „Ohne Tierversuche könnten wir manche Erkenntnisse zu den molekularen Mechanismen von Krankheiten oder zur Wirkung von Arzneimitteln nicht gewinnen.“ Tierversuche mögen zwar ein Unwohlsein verursachen. „Ich verspüre allerdings ein größeres Unwohlsein, wenn ich einen Patienten sehe, dem ich nicht helfen kann“, sagte der Forscher. Auch das Wissen über Organoide – also über Alternativmethoden, an denen auch das Einstein-Zentrum 3R arbeitet – habe man mithilfe von Tierversuchen gewonnen.
Hippenstiel von der Charité – Universitätsmedizin Berlin wies darauf hin, dass unabhängig davon, ob an Organoiden oder Tiermodellen geforscht würde, es sich immer um Modelle handele. Weder könnten Modelle die Realität zu 100 Prozent spiegeln, noch seien sie sicher vor Fehlinterpretationen. „Diese Unschärfe gilt es zu ertragen.“ Es gelte, stets zu prüfen, ob Tierversuche die besseren Ergebnisse bringen oder eben Alternativmethoden. Er betonte, dass es bei 3R nicht darum gehe, vollständig auf Tierversuche zu verzichten. Es gehe darum, nützliche Modelle zu schaffen, dank denen Tierversuche auf das absolut Notwendige reduziert werden könnten.
Dass Tierversuche die Menschen nicht kalt lassen, zeigten auch die Wortmeldungen aus dem Publikum und Stimmen aus einem eingespielten Video. Es fehle nicht an Möglichkeiten, Tierversuche zu ersetzen, sondern einzig am Willen, hieß es da. Oder dass auf Medikamentenpackungen vermerkt werden müsste, wenn bei der Entwicklung der Arznei mit Tieren experimentiert worden ist – was allerdings auf alle in Deutschland erhältlichen Medikamente aufgrund der gesetzlichen Vorgaben zutrifft. Vor der Idee, Medikamente gleich am Menschen zu testen, warnte Ethikratsmitglied Augsberg – „denn ehrlicherweise müsste man sich fragen, wo die Menschenversuche dann stattfinden. Bei uns?“
Einen Konsens gab es am Ende nicht – aber einen wohltemperierten Austausch von Meinungen. Ziel erreicht.
Text: Jana Erhardt-Joswig