Neuronet

Verdächtige Unbekannte

Das Netzwerk Neuronet1.0 offenbart viele Proteine, die möglicherweise an der Entstehung von Neurodegenerativen Erkrankungen beteiligt sind. Dazu veröffentlichte die AG Wanker vom MDC kürzlich eine neue Studie im Fachblatt Cell Reports.
An den verantwortlichen Proteinen wird intensiv geforscht. Dennoch sind Ansätze für wirksame Therapien bislang ins Leere gelaufen.
Prof. Dr. Erich Wanker
Erich Wanker Leiter der Arbeitsgruppe „Proteomforschung und molekulare Mechanismen bei neurodegenerativen Erkrankungen“

Auslöser neurodegenerativer Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson, Chorea Huntington oder Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) sind fehlgefaltete, miteinander verklumpte Proteine, die sich im Nervengewebe ablagern. Sie verursachen dort schwere Schäden, Nervenzellen sterben ab. Die Symptome: Demenz, Bewegungsstörungen oder Lähmungen. „An den verantwortlichen Proteinen wird intensiv geforscht. Dennoch sind Ansätze für wirksame Therapien bislang ins Leere gelaufen“, sagt Professor Erich Wanker, Leiter der Arbeitsgruppe „Proteomforschung und molekulare Mechanismen bei neurodegenerativen Erkrankungen“ am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC). „Wir haben die auslösenden molekularen Mechanismen erst bruchstückhaft verstanden.“

Um weitere Beteiligte der Krankheitsentstehung ausfindig zu machen, untersuchten die Forschenden die Wechselwirkung zwischen Proteinen, die bekanntlich Neurodegeneration verursachen, mit bislang unverdächtigen Kandidaten. Wer interagiert mit wem? Wie groß ist das Beziehungsgeflecht? Welche Proteine sind womöglich noch in neurodegenerative Krankheitsgeschehen involviert? Antworten auf diese Fragen geben die MDC-Wissenschaftler*innen in ihrer aktuellen Studie in „Cell Reports“, die in enger Kooperation mit dem Team um Professor Roded Sharan, Mitglied der School of Computer Science an der Universität Tel Aviv und weiteren internationalen Forschungsgruppen entstanden ist.

Deutlich mehr als die üblichen Verdächtigen

Proteine sind als farbige Kreise dargestellt (rot: bekannte Proteine die Neurodegeneration verursachen, gelb: bekannte Proteine die mit anderen Krankheiten assoziiert sind, blau: Proteine die bisher nicht im Zusammenhang mit Krankheiten standen). Die experimentell ermittelten Wechselwirkungen zwischen Proteinen sind als Linien gezeigt, wobei rote Linien direkte (unmittelbare) Wechselwirkungen zwischen Neurodegeneration verursachenden Proteinen repräsentieren. Grüne Linien signalisieren direkte Wechselbeziehungen zwischen Neurodegeneration verursachenden Proteinen und anderen krankheitsassoziierten Proteinen, hellgraue Linien stellen die übrigen Wechselwirkungen dar.

 

„Zunächst haben wir computergestützt wissenschaftliche Studien durchforstet, um sämtliche Proteine zu erfassen, von denen wir heute wissen, dass sie mit neurodegenerativen Erkrankungen zusammenhängen“, sagt Christian Hänig, Bioinformatiker in der Arbeitsgruppe von Wanker und Erstautor der Studie. „Die relevantesten 500 Proteine haben wir dann im Labor auf mögliche Wechselwirkungen mit anderen Proteinen hin untersucht.“

Der Pool der in der Studie getesteten Gegenspieler umfasste nahezu alle menschlichen Proteine. Mit Hilfe eines robotergestützten Hochdurchsatzverfahrens untersuchte das Team systematisch Wechselwirkungen zwischen einzelnen Proteinen. Bei der Hefe-2-Hybrid-Methode wird die Erbsubstanz, die für die zu testenden Proteine codiert, jeweils in verschiedene Stämme von Hefezellen eingebracht. Anschließend werden immer zwei unterschiedliche Hefezellstämme miteinander verpaart. Kommt es dann innerhalb der fusionierten Hefezellen zu einer Wechselwirkung zwischen zwei Proteinen, sendet die Zelle ein Signal aus – etwa in Form einer Farbreaktion. Interagieren die Proteine nicht miteinander, bleibt das Signal aus.

Die Daten aus den Laboruntersuchungen bearbeitete das MDC-Forschungsteam mit bioinformatischen Methoden und vereinte sie mit bereits aus der Literatur bekannten

Das Interaktionsnetzwerk liefert uns damit wichtige Hinweise auf viele weitere mögliche Verdächtige.
Christian Hänig Bioinformatiker in der AG Wanker

Proteininteraktionen in einem Netzwerk: Neuronet1.0 umfasst mehr als 30.000 Verbindungen zwischen 5.000 Proteinen, die alle mit Neurodegeneration in Verbindung stehen könnten. Darunter eine Vielzahl von Proteinen, die bislang nicht mit dieser Gruppe an Erkrankungen in Zusammenhang gebracht wurden. „Das Interaktionsnetzwerk liefert uns damit wichtige Hinweise auf viele weitere mögliche Verdächtige“, sagt Hänig.

Ergebnisse aus Stichprobenuntersuchungen bei Fruchtfliegen und an Gewebeproben aus dem Gehirn von Alzheimerpatient*innen bestätigen die Hinweise aus Neuronet1.0. „Auch hier interagieren bekannte neurodegenerative Proteine – wie mit Hilfe unseres Netzwerks vorhergesagt – mit Proteinen, deren Rolle bislang unklar war“, sagt Wanker. „Wir hoffen, dass viele Forschungsgruppen unsere Daten aufgreifen werden, um die molekularen Mechanismen neurodegenerativer Erkrankungen weiter aufzuklären und Ansatzpunkte für wirksame Therapien finden zu können.“

Text: Nicole Silbermann

 

Weiterführende Informationen

 

Literatur

Christian Hänig et al. (2020): “Interactome Mapping Provides a Network of Neurodegenerative Disease Proteins and Uncovers Widespread Protein Aggregation in Affected Brains”, Cell Reports, DOI: j.celrep.2020.108050