Phantastische Muskelproteine und wo sie zu finden sind
Forscherinnen und Forscher am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) haben ein neuartiges Mausmodell entwickelt, das es ermöglicht, in einen arbeitenden Muskel hineinzusehen: So identifizierten sie Proteine, die das Sarkomer benötigt, um sich zusammenzuziehen, zu entspannen, den Energiebedarf zu kommunizieren und sich an mechanische Belastung anzupassen. Sie kartierten die Proteine des Sarkomers, ausgehend von der „Z-Scheibe“, der Grenze zwischen benachbarten Sarkomeren. Das allein war bereits ein bedeutender Fortschritt in der Untersuchung der quergestreiften Muskulatur.
Selbst Myosinforscher werden von den Ergebnissen überrascht sein. Damit können wir die Grundlagen der Muskelkontraktion auf molekularer Ebene besser verstehen.
Dabei machten sie eine unerwartete Entdeckung: Myosin, eines der drei Hauptproteine, aus denen die quer gestreiften Muskelfasern bestehen, scheint in die Z-Scheibe einzutreten. Bisherige Modelle für das Zusammenspiel zwischen Myosin, Aktin und dem elastischen Gerüstprotein Titin haben diese Möglichkeit bisher außer Acht gelassen. Erst vor Kurzem haben Forscher*innen aus Stuttgart und Jena vorgeschlagen, dass Myosinfilamente in die Z-Scheiben-Struktur eindringen könnten. Bislang wurde dafür jedoch noch kein experimenteller Nachweis erbracht.
„Selbst Myosinforscher werden von den Ergebnissen überrascht sein“, sagt Professor Michael Gotthardt, Leiter der Arbeitsgruppe „Neuromuskuläre und kardiovaskuläre Zellbiologie“ über die Studie, die nun in Nature Communications erschienen ist. „Damit können wir die Grundlagen der Muskelkontraktion auf molekularer Ebene besser verstehen.“
Wer ist beteiligt?
Zu Gotthardts Team gehören die Erstautorinnen Dr. Franziska Rudolph und Dr. Claudia Fink, sie wurden von weiteren Kolleginnen und Kollegen am MDC und an der Universität Göttingen unterstützt. Das ursprüngliche Ziel war nicht die Bestätigung der Theorie, sondern die Charakterisierung der Proteinzusammensetzung der Z-Scheibe. Hierzu entwickelten sie ein Mausmodell mit einem künstlichen Enzym namens BioID, das sie in das Riesenprotein Titin einfügten. Anschließend markierte Titin-BioID Proteine in der Nähe der Z-Scheibe.
Sarkomere sind winzige molekulare Maschinen voller Proteine, die eng zusammenarbeiten. Bisher war es unmöglich, die spezifischen Proteine anzureichern, die sich in den einzelnen Teilregionen befinden, insbesondere im aktiven Muskel. „Mit Titin-BioID konnten wir unvoreingenommen die Proteinzusammensetzung spezifischer Regionen der Sarkomerstruktur untersuchen“, sagt Dr. Philipp Mertins, Leiter der MDC-Arbeitsgruppe Proteomik. „Das war bisher nicht möglich“.
Das Team hat BioID erstmals bei lebenden Tieren unter physiologischen Bedingungen eingesetzt und so 450 Proteine identifiziert, die mit dem Sarkomer in Verbindung stehen. Rund die Hälfte dieser Eiweiße war bereits bekannt. Hinsichtlich der Sarkomerstruktur, Signalübertragung und Stoffwechsel entdeckte das Team auffällige Unterschiede zwischen Herz- und Skelettmuskulatur – und zwischen erwachsenen und neugeborenen Mäusen. Letzteres deutet darauf hin, dass bei adultem Gewebe Leistung und Energieerzeugung optimiert werden, während der Schwerpunkt bei Neugeborenen auf Wachstum und
Umbau liegt. „Wir wollten wissen, wer mitspielt“, sagt Gotthardt. „Mit den meisten beteiligten Proteinen haben wir gerechnet, das bestätigt unseren Ansatz.“
Die Überraschung
Das Protein, das sie in der Z-Scheibe nicht erwartet hatten, war Myosin, welches an der gegenüberliegenden Seite des Sarkomers sitzt. Wenn ein Muskel sich bewegt, schiebt sich Myosin an Aktin vorbei und bringt benachbarte Z-Scheiben näher zusammen. Das Gleiten der Aktin- und Myosinfilamente erzeugt die Kraft, die für die Pumpfunktion des Herzens, eine aufrechte Körperhaltung oder das Heben von Gegenständen wichtig ist.
Diese sogenannte „Gleitfilamenttheorie“ beschreibt die Krafterzeugung im Sarkomer und veranschaulicht das Zusammenspiel zwischen Kraft und Sarkomerlänge. Gängige Modelle haben jedoch Probleme, das Verhalten von vollständig kontrahierten Sarkomeren vorherzusagen. Bei diesen Modellen wurde angenommen, dass Myosin maximal bis an die Z-Scheibe reicht, während es sich an Aktin entlang schiebt. Es gab zwar Hinweise dafür, dass Myosin sich weiter bewegt. „Aber wir wussten nicht, ob wir in unseren gefärbten Gewebeproben ein Abbild der Wirklichkeit sehen oder einen Artefakt“, sagt Gotthardt. „Mit BioID sitzen wir quasi an der Z-Scheibe und beobachten die vorbeiziehenden Myosin-Filamente.“
Gotthardt unterstützt die Theorie, dass die Kontraktion durch das Eindringen des Myosins in die Z-Scheibe gebremst oder abgeschwächt wird. Damit könnten die anhaltenden Diskussionen um die Berechnung der Kraftentwicklung in Abhängigkeit von der Sarkomerlänge beendet werden. Vielleicht hat das Team die Grundlage gefunden, um ein präziseres Modell des Sarkomers zu entwickeln, oder für weitere Überlegungen, wie der Muskel vor einer zu starken Kontraktion geschützt werden kann.
Wichtige Grundlage für künftige Therapien
Mit einem verbesserten Verständnis der molekularen und mechanischen Grundlagen der Muskelkontraktion lassen sich Rückschlüsse auf Krankheitsmechanismen ziehen, wie bei Muskelschäden, Muskelerkrankungen oder altersbedingtem Muskelschwund. Sobald bekannt ist, welche Proteine Probleme verursachen können, bieten sich neue Ziele für die Behandlung von Muskel- oder Herzerkrankungen.
Als nächstes planen Gotthardt und sein Team, BioID bei der Untersuchung von Tieren mit Muskelschwund einzusetzen. Sie wollen dann Proteine identifizieren, die daran beteiligt sind, Muskelzellen zu schwächen, und sich für neue therapeutische Ansätze eignen. „Vielleicht finden wir Proteine, die im gesunden Muskel nicht zum Sarkomer gehören. Die wären dann ein Teil des Problems“, erklärt Gotthardt. „Mit BioID können wir sie identifizieren und der Therapieentwicklung zugänglich machen.“
Text: Laura Petersen
Weitere Informationen
Pressemitteilung „Titin in Echtzeit verfolgen“
Literaturangaben
Franziska Rudolph et al (2020): “Deconstructing sarcomeric structure–function relations in titin-BioID knock-in mice“, Nature Communications, DOI: 10.1038/s41467-020-16929-8
Downloads
Dem Sarkomer beim Kontrahieren zuschauen – Myosin (grün), Aktin und die Z-Scheibe (rot) und BioID (blau). Foto: Jacobo Lopez Carballo, Gotthardt Lab, MDC
Pressekontakte
Professor Michael Gotthardt
Gruppenleiter
“Neuromuskuläre und kardiovaskuläre Zellbiologie
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC)
gotthardt@mdc-berlin.de
Christina Anders
Redakteurin, Kommunikation
Max Delbrück Centrum für Molekular Medizin
in der Helmholtz Gemeinschaft
+49 (0)30 9406 2118
christina.anders@mdc-berlin.de or presse@mdc-berlin.de
- Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC)
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Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft gehört zu den international führenden biomedizinischen Forschungszentren. Nobelpreisträger Max Delbrück, geboren in Berlin, war ein Begründer der Molekularbiologie. An den MDC-Standorten in Berlin-Buch und Mitte analysieren Forscher*innen aus rund 60 Ländern das System Mensch – die Grundlagen des Lebens von seinen kleinsten Bausteinen bis zu organübergreifenden Mechanismen. Wenn man versteht, was das dynamische Gleichgewicht in der Zelle, einem Organ oder im ganzen Körper steuert oder stört, kann man Krankheiten vorbeugen, sie früh diagnostizieren und mit passgenauen Therapien stoppen. Die Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen rasch Patient*innen zugutekommen. Das MDC fördert daher Ausgründungen und kooperiert in Netzwerken. Besonders eng sind die Partnerschaften mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin im gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center (ECRC) und dem Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité sowie dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK). Am MDC arbeiten 1600 Menschen. Finanziert wird das 1992 gegründete MDC zu 90 Prozent vom Bund und zu 10 Prozent vom Land Berlin.